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Nora Bossong
Foto: © Brost-Stiftung / Christian Deutscher

„Mir sind die Schattenseiten deutlicher aufgefallen“

08. Januar 2024

Nora Bossongüber ihre Tätigkeit als Metropolenschreiberin Ruhr – Über Tage 01/24

trailer: Frau Bossong, Ihr Werk reicht unter anderem von einem politischen Liebesroman über Lyrik und Reportagen bis hin zu einem Essay über ihre Generation. Was für ein literarisches Format können wir nach Ihrer Residenz erwarten?

Nora Bossong: Es wird ein Theaterstück über einen historischen Stoff. Ich gehe darin zurück ins Jahr 1936 und schreibe über eine Seidenraupenzucht in Gelsenkirchen, die in jenem Jahr von städtischer Seite stark gefördert wurde. Das Thema klingt zunächst nach niedlicher Kleintierzucht. Es spielte aber in der NS-Propaganda eine immer größere Rolle. Was mich an diesem Stoff reizt, ist, dass man mit einer kleinen, unscheinbaren Thematik eine große Geschichte erzählen kann. Denn es geht zugleich um die sogenannte „Waffenkammer des Reichs“, als welche das Ruhrgebiet damals galt. Das ist eine düstere Seite des Ruhrgebiets, aber sie gehört ja zur historischen Realität.

Warum war diese Seidenraupenzucht so wichtig für das Ruhrgebiet?

Die Seidenraupenzucht hat insgesamt in der NS-Propaganda eine Rolle gespielt, sie stand für Disziplin, für Arbeitsbeschaffung, und die Seidengewinnung war wegen des wirtschaftlichen Autarkiestrebens wichtig. Ab Kriegsbeginn wurde es dann auch noch für die Rüstungsindustrie interessant, weil man Seide für die Fallschirme brauchte. Obwohl diese Zucht also für die Kriegswirtschaft relevant war, erzählt man mit ihr eine andere Geschichte als die von Unternehmen wie Krupp oder Thyssen. Es waren ja keine Ruhrbarone, sondern eher einfache Leute, die diese Seidenzucht in Gelsenkirchen betrieben. Erst in der NS-Zeit wurde diese Zucht größer aufgezogen. Mit einer Geschichte darüber zeichnet man ein typisches und zugleich ungewöhnlicheres Bild über das Ruhrgebiet, das für die NS-Wirtschaft sehr wichtig war, aber auch für die NS-Ideologie. „Hart wie Kruppstahl“ hieß es damals ja.

Sie hätten das Thema auch erneut als Roman oder als Essay aufgreifen können. Wie ergab sich die Entscheidung für das Theaterformat?

Im Ruhrgebiet gibt es eine starke Theatertradition. Fast jede Stadt hat hier ein herausragendes Theater. So eine Vielfalt auf engstem Raum findet man in Deutschland nirgends sonst. Das kann man wunderbar aufgreifen, indem man selbst in diesem Genre arbeitet.

In Ihrem Roman „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (2012) geht es um eine Industriellenfamilie in Essen. Inwiefern haben Sie damit bereits einen Ruhrgebietsroman vorgelegt?

Das ist ein Essen-Roman, der sich an der Familie Krupp abarbeitet. Es geht im Roman um eine Firma, die in der dritten Generation Handtücher produziert. Dadurch entsteht ein Kontrast des harten Kruppstahls zum weichen Frottee. Krupp war – überspitz formuliert – größer als das Deutsche Reich selbst. Für mich war klar, dass ich die Handlung unter anderem nach Essen verlagern will, denn die Krupps kennt jeder.

Ihre Vorgänger wie etwa Per Leo und Wolfram Eilenberger setzten sich während ihrer Residenz mit dem Wandel dieser Region auseinander. Wie nehmen Sie die Transformation des Ruhrgebiets wahr?

Der Wandel ist hier suboptimal abgelaufen. Für mich ist das Ruhrgebiet keine Terra incognita. Aber vor meinem Aufenthalt hatte ich die Sichtbarkeit von mindestens relativer Armut und Perspektivlosigkeit nicht so sehr im Blick. Mir sind also die Schattenseiten viel deutlicher aufgefallen. Auf mich wirkt es daher nicht wie ein gesund verlaufender Strukturwandel. Daher ist mein Blick auf das Ruhrgebiet bedrückter als vor meiner Residenz.

Diese Armut gibt es aber auch in anderen Städten wie z.B. in Berlin.

Im Ruhrgebiet prägt die Armut deutlich stärker das Stadtbild als z.B. in Berlin. Wenn man in Essen oder in Gelsenkirchen in die Innenstadt läuft, sieht man zunächst nicht viel Schönes. In Berlin gibt es natürlich auch Armut. Aber mit der Gentrifizierung haben wir dort eher ein gegenteiliges Problem: Zunehmend viele kaufkräftige Menschen finden diese Stadt attraktiv und der Wohnraum wird knapp. Im Ruhrgebiet ist es dagegen keine zahlungsstarke Klientel, die die Region überläuft und es gibt auch keine Investoren aus New York, die massenhaft Wochenendwohnungen in Gelsenkirchen kaufen. Um dem Abwärtstrend entgegenzuwirken, sollte eher Arbeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt zeitgemäß neu verhandelt werden, als in einer Bergbaunostalgie zu verharren.

Benjamin Trilling

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