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Ingo Schulze
Foto: Gaby Gerster

„Gemessen am Osten verlief der Strukturwandel hier sanft“

06. Februar 2023

Ingo Schulze über seine Erfahrungen als Metropolenschreiber Ruhr – Über Tage 02/23

trailer: Für ihre Residenz arbeiten Sie an einem Journal, das ganz unterschiedliche Texte enthalten soll. Welche Eindrücke der Region haben Sie bisher gesammelt?

Ingo Schulze: Ich habe erst mal versucht, mich hier zu orientieren, im Kleinen wie im Großen. Bisher habe ich ganz unterschiedliche Leute getroffen, über manche Begegnung werde ich schreiben, ein Porträt oder ähnliches. Wenn man aus Berlin hierherkommt, ist man ja nicht in einer völlig anderen Welt, die Ähnlichkeiten oder Unterschiede liegen auch hier eher zwischen den Klassen oder sozialen Schichten als in den Unterschieden der Orte.

Wen haben Sie für die Porträts getroffen?

Beispielweise hat sich ein älterer Herr, Jahrgang 1939, nach einer Lesung bei mir gemeldet. Er lud mich zu sich nach Gelsenkirchen ein, er war gut vorbereitet. Er hat mir zwei Stunden aus seinem Leben erzählt, unter anderem von seiner eigenen Firma, die ihm immer noch gehört. Er ist stolz, aus Gelsenkirchen zu kommen, und leidet zugleich, weil er auch sieht, was kaputt gegangen ist.

Den Begriff der „Metropole Ruhr“ gibt es erst seit dem Kulturhauptstadtjahr 2010. Nehmen Sie diese Region als so einheitlich wahr wie es dieses Label suggeriert?

Ich erlebe das Ruhrgebiet als eine eng verwobene und vitale Region. Ohne Auto bin ich hier auf die Schienen angewiesen. Und mit dem Zug werden die Katzensprünge deutlich, etwa von Mülheim nach Essen oder Duisburg. Man ist auch mit dem Fahrrad schnell in einer anderen Stadt. Es ist aber nicht eine große Stadt, sondern besonders durch die Vielzahl der Zentren. Es wäre allerdings eine Verkürzung, das aufs Ruhrgebiet zu beschränken.

Einer ihrer Vorgänger, Wolfram Eilenberger, kritisierte eine nostalgische Hinwendung zum Bergbau oder der Fußballvergangenheit. Was ist ihre Meinung dazu?

Wer aus dem Osten kommt, hat die Erfahrung von einem Bruch erlebt. Weil es einem auf dem neuen Terrain an Erfahrungen fehlt, ist man erstmal verunsichert und sucht Orientierung. Hier ist mir diese Idealisierung der Vergangenheit eher medial begegnet. Es gibt aber einen Stolz auf das, was da gewesen ist und einen Schmerz darüber, dass etwas zusammenbrach, das vorher das Leben bestimmte. Allerdings erscheint mir mit meiner östlichen Erfahrung das Ruhrgebiet als wirtschaftlich sehr stark, auch wenn es hier Brachen gibt. Aber eine deindustrialisierte Landschaft ist das nicht, ganz im Gegenteil.

Welche Rolle spielt ihre ostdeutsche Herkunft bei der literarischen Auseinandersetzung mit dem Ruhrgebiet?

Es ist nolens volens immer so ein Vergleich, wie der Kohlebergbau hier und wie dieser im Osten beendet wurde. Wenn man rückblickend auf die Kultivierung der Bergbaulandschaften schaut, merkt man, dass die DDR in dieser Hinsicht während der 1950er- und 60er Jahre vorne dabei war. Im Ruhrgebiet entwickelte sich das dagegen erst in den 1970er-Jahren, als dem Osten die Mittel dazu zu fehlen begannen. Das ist zwar ein Buchwissen, aber man sieht damit anders in die Landschaft.

Inwiefern gibt es Parallelen zwischen dem hiesigen Strukturwandel und den Änderungen, die mit derWiedervereinigung einhergingen?

In Ostdeutschland gab es eine Deindustrialisierung von 70 Prozent. Es brauchte 17 Jahre, bis der Osten wieder auf das Niveau kam, das es 1989 gab. Auch die großen Betriebe wurden lahmgelegt. Hinzu kam in dieser Zeit eine schockartige Arbeitslosigkeit. Gerade in kleineren Städten war für viele Werktätige von heute auf morgen Schluss. Daran gemessen, verlief der Strukturwandel im Ruhrgebiet sanft. Trotzdem weiß ich, was ein solcher Bruch für Erschütterungen nach sich zieht – auch für das Selbstbild einer Region.

In ihrem aktuellen Essayband „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte“ formulieren Sie auch eine Kapitalismuskritik. Das Ruhrgebiet gilt laut Forscher:innen als „armutspolitische Problemregion Nr.1“. Welche Rolle spielt das für ihr literarisches Projekt als Metropolschreiber?

Mir fällt auf, dass hier die Gegensätze näher beieinanderliegen. Soweit ich das beurteilen kann, gibt es große Stadtgebiete, in denen man sich offenbar kaum ernsthafte finanzielle Sorgen machen muss, es sei denn, man hat sich verspekuliert. Und dann gibt es Gebiete, denen ist anzusehen, dass sie genau wissen, wo sie einkaufen können und wo nicht und die womöglich nicht das Geld haben, für ihre Kinder ein warmes Mittagessen zu bezahlen. Dieser Widerspruch ist hier viel fassbarer als anderswo, wo es ihn auch gibt. Warum wir das als Gesellschaft hinnehmen, ist eigentlich nicht zu erklären.

Interview: Benjamin Trilling

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