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Iuditha Balint
Foto: Stadt Dortmund / Roland Gorecki

„Kaum jemand kann vom Schreiben leben“

02. Oktober 2023

Iuditha Balint vom Fritz-Hüser-Institut über die Literatur der Arbeitswelt – Über Tage 10/23

Vor 100 Jahren begann der Stahlarbeiter und spätere Bibliothekar Fritz Hüser (1908-1979), eine Privatsammlung zur Arbeiterliteratur zu schaffen. Vor 50 Jahren stiftete er sie der Stadt Dortmund und sie wurde der Grundstock desFritz-Hüser-Instituts. Ein Gespräch über klassenbewusste Literatur und Lesungshonorare.

trailer: Iuditha, welche Bedeutung hat Fritz Hüser für die Literatur im Ruhrgebiet?

Iuditha Balint: Es ist für uns ein Glücksfall, dass Hüser sein Interesse so hartnäckig verfolgte. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren seine Sammlung, aber auch viele Bibliotheken zerstört. Damit fing er wieder von vorne an, Literatur der Arbeitswelt zu sammeln – etwa in den 1960er-Jahren durch Aufrufe in verschiedenen Zeitungen, um die Autor:innen auf seine Sammlungstätigkeit aufmerksam zu machen. Auch für das Ruhrgebiet hat Hüser eine wichtige Bedeutung. Denn es war eine sehr industriell geprägte Region, in der viel gearbeitet, aber auch sehr viel Literatur produziert wurde. Hüser und seine damals noch nicht institutionalisierte Sammlung haben ebenso dafür verantwortlich gezeichnet, dass sich etwa die Dortmunder Gruppe 61 herausbilden konnte, eine Vereinigung, in der es um die Literatur der Arbeitswelt ging. Er war nicht nur Mitbegründer dieser Gruppe, sondern auch derjenige, der mit seiner Stellung für eine stärkere Sichtbarkeit der Literatur der Arbeitswelt sorgen konnte. Die Mitglieder konnten daher von Hüsers Netzwerk profitieren. 

Im Ruhrgebiet wurde sehr viel Literatur produziert“

Von der Gruppe 61 spaltete sich der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt ab, um gezielt schreibende Arbeiter:innen einzubeziehen. Eine Diskussion, die mit Didier Eribon zurückkehrte?

Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ löste eine Art Lawine von Autosoziobiografien aus. Die Hintergrundfolie dieser Klassenübergänger-Literatur ist auch die Arbeit. Diese Kombination aus Innenschau und Arbeitswelt kommt gegenwärtig sehr häufig vor. Aber: Die Arbeitswelt war in der Literatur immer da und sie wird es als großer und wichtiger Teil unseres Lebens auch bleiben. Das schlägt sich wiederum konstant in der Literatur nieder – egal, ob es nun ums Schreiben geht, um die Tätigkeit einer Kammerdienerin, Sekretärin, um industrielle Arbeit oder die eines Managers.

Arbeit ist eine konstante Größe in der Literatur“

Hat sich der Umgang mit Arbeit in der Literatur verändert?

Arbeit ist eine konstante Größe in der Literatur. Was unterschiedliche Konjunkturen hat, ist dagegen eine Literatur der Arbeitswelt, die organisiert ist. Das war in den 1920er Jahren der Fall, als in den linken und sozialdemokratischen Publikationsorganen eine Literatur der Arbeiter:innenbewegung publiziert wurde. Etwas Ähnliches kam mit der Gruppe 61 wieder und wurde mit dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt fortgeführt. Danach ebbte es ab. Ab Anfang der 90er Jahre gibt es diese organisierte Form, über Arbeitswelten zu schreiben, kaum noch. Es bedeutet aber nicht, dass das Thema nicht mehr da ist. Denn es erschienen unglaublich viele Theaterstücke und Romane, in denen es um Arbeitswelten geht. Es entstanden Netzwerke wie Richtige Literatur im Falschen oder other writers need to concentrate, die sich aus unterschiedlicher Perspektive mit Arbeitswelten auseinandersetzen.

Schriftsteller:innen lebten schon immer prekär“

In der von dir mitherausgegebenen Anthologie „Brotjobs & Literatur“ geht es auch um die wirtschaftliche Lage von Schriftsteller:innen. Wie steht es darum?

Schriftsteller:innen lebten schon immer prekär. Kaum jemand kann sich leisten, nur vom Schreiben zu leben. Die Pandemieumstände machten nur deutlicher, wie wenig Autor:innen vom Schreiben verdienen und dass sie anderen Erwerbstätigkeiten nachgehen müssen, um überhaupt eine finanzielle Lebensgrundlage zu haben. Viele hatten schlechte Karten, weil sie zuvor von Veranstaltungen wie Lesungen lebten. Seitdem hat sich der Literaturbetrieb ein wenig, aber immer noch nicht genug verändert. Der Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller forderte in einer Erklärung zwar ein Mindesthonorar für Lesungen von 500 Euro. Die meisten Veranstalter:innen versuchen auch, sich an diese Grenze zu halten, auch das Bewusstsein für ein angemessenes Honorar hat sich geändert, da einige Autor:innen mutig eine höhere Vergütung fordern. Aber es gibt immer noch Fälle, in denen 50 Euro Honorar angeboten werden.

Interview: Benjamin Trilling

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