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Henning Christoph
Foto: Benjamin Trilling

„Es hat mich umgehauen, so etwas Exotisches im Ruhrgebiet zu sehen“

04. September 2023

Fotograf Henning Christoph über Erfahrungen, die seine Arbeit geprägt haben – Über Tage 09/23

Von 1977 bis 1989 fotografierte Henning Christoph den Alltag der Menschen, die als „Gastarbeiter“ aus der Türkei nach Deutschland, insbesondere ins Ruhrgebiet, gekommen waren. Hieraus entstand u.a. die Reportage „Die deutschen Türken“, die 1979 in Geo erschien. Ebenfalls äußerst geduldig bereist Christoph seit Jahrzehnten Afrika. Seine fotografische Erforschung der Voodoo-Kultur gilt als herausragend. Im Interview spricht er über Beschneidungsfeste in Essen, Voodoo und Krupps Beteiligung am Sklavenhandel.

trailer: Herr Christoph, Sie fotografierten über zehn Jahre das Leben der türkischstämmigen Arbeitsmigranten. Wie kam es dazu?

Henning Christoph: 1977 hatte ich in Essen-Frohnhausen ein Fotolabor. Eines Tages klingelte ein Mustertürke mit schwarzem Schnurbart an der Tür. Er fragte mich, ob ich ihm die freie Wohnung über meinem Labor vermieten könne. Daraufhin sagte ich, dass es nicht mein Haus ist, aber ich ein gutes Wort für ihn beim Vermieter einlegen werde. Daraufhin zog er dort mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter ein. Durch meine offene Tür konnte er sehen, dass ich Fotos mache. Deswegen fragte er mich, ob ich ihn zu einer türkischen Hochzeit begleiten möchte. Ich bejahte. Es war allerdings keine Hochzeit, sondern ein Beschneidungsfest in einer kleinen Wohnung in Frohnhausen. Es hat mich umgehauen, so etwas Exotisches hier im Ruhrgebiet zu sehen. Dabei habe ich sofort das Vertrauen der Familienangehörigen gewonnen. Mit den Bildern ging ich schließlich zum Magazin Geo. Dann durfte ich zwei Jahre an dieser Fotoreportage über die deutschen Türken arbeiten. Damit begann alles.

Familien, die unwahrscheinlich großzügig waren“

Wie haben Sie diese Gemeinschaft wahrgenommen?

Diese Generation war arm. Sie hatten aber große Familien, die sich gegenseitig halfen und unwahrscheinlich großzügig waren. Als die Familie über mein Labor einzog, haben sie immer für mich mitgekocht. Ich konnte kaum ablehnen. Ich war ständig dort und auch akzeptiert. Umgekehrt verschenkte ich meine Fotos. Einmal bin ich sogar mit der Familie in ein Dorf bei Istanbul mitgereist, wo ich die türkische Großfamilie kennenlernte.

Wie kam es zu Ihrem Engagement in Afrika?

Als Vertragsfotograf bekam ich zunächst Aufträge über Hilfswerke in Afrika. In Benin erhielt ich einen Aufpasser und durfte mich nicht frei bewegen. Aber ich hörte von einem katholischen Priester, der in der Nähe der Hauptstadt wohnte. Als mein Aufpasser wegguckte, entwischte ich ihm und fuhr zu diesem Priester. Dort kam ich unter und konnte vor Ort eine Reportage machen. Eines Abends saß ich mit ihm auf seiner Veranda und ich hörte Trommeln wie noch nie zuvor in Afrika. Ich fragte ihn, was das sei. Er antwortete nicht. Erst als ihm die Frage zum dritten Mal stellte, antwortete er: Das sei der Teufel. Ich gab einem Bootsmann Geld, damit er mich dahin brachte, wo die Trommeln ertönten. Dort waren Männer in Bastkleidern, die sich mit Messern tiefe Wunden in die Körper ritzten. Als ich Fotos machte, wurde ich schnell vertrieben. Aber der Bootsfahrer erklärte mir, das sei Voodoo. Als ich dem Priester davon erzählte, sank er auf die Knie und fing an zu beten. Von da an wusste ich, dass ich wieder zurückkommen muss. Im Auftrag der Unesco konnte ich in den Folgejahren an Fotogeschichten über Voodoo arbeiten. Später lebte ich sechs Jahre in Afrika. Dadurch erhielt ich einen Einblick in alle Zeremonien.

Natürlich war das Ruhrgebiet stark am Kolonialismus beteiligt“

Durch den Kolonialismus hat das Ruhrgebiet einen historischen Bezug zu Afrika. Ist diese Zeit kritisch aufgearbeitet?

Wir versuchen das. Beispielsweise haben wir im Museum eine koloniale Sammlung von einer Dame, deren Vater in Afrika-Südwest Vermessungsoffizier war. Viele der Manillen (Armreife aus Bronze oder Kupfer, die als „Sklavenhandelswährung“ bekannt wurden; d. Red.), die sich in unserem Museum finden, wurden im Ruhrgebiet hergestellt. Auch die meisten auf den Plantagen verwendeten Macheten wurden zwar nicht im Ruhrgebiet, aber in Solingen gemacht. Die Sklavenkleidung wurde dagegen im Bergischen Land gewebt. Aber natürlich war das Ruhrgebiet stark am Kolonialismus beteiligt. So wurde mit den Kanonen von Krupp in Afrika gehandelt, auch, um Sklaven zu kaufen. Es ist schade, dass dieses Kapitel nicht in den Schulen vermittelt wird. Die wissen dort nichts über die Kolonialzeit und die Sklaverei. Deutschland war darin verwickelt wie alle anderen Länder. Das Konzentrationslager wurde in Afrika-Südwest erfunden, weil man die Hereros loswerden wollte.

Interview: Benjamin Trilling

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