Am Ende kugeln sie wieder über die Bühne: ein Knäuel aus Menschen, vermengt mit Kleidungsstücken, Folien, Fellen und kleinen Dingen, die gerade greifbar sind und sich prima in das Gewusel aus Armen, Beinen und Körpern hineinstopfen lassen. Allein die Kleider an den Körpern bleiben dieses Mal überwiegend da, wo sie sind und erlauben auch minderjährigem Publikum zuzuschauen. Im vergangenen Jahr war das noch anders. Da sorgte Choreografin Meg Stuart mit ihren Performern aus Brüssel noch mit einem freizügigen Tanzabend „ab 18“ für Aufsehen bei der Ruhrtriennale.
Dieses Mal gibt es weniger Nacktheit, weniger Sex, aber mindestens genauso viel Experimentier- und Improvisationslust wie gewohnt. „Sketches/Notebook“ – also Skizzen/Notizbuch – heißt die vor drei Jahren in Berlin entstandene Produktion und klingt zunächst arg nach Mangel an Konzept. Durchaus nicht von ungefähr. Denn die radikale Offenheit des „kollektiven Notizbuchs“, das Fehlen konkreter Vorgaben, ist eben das Konzept. Bei der Ruhrtriennale ist das Stück noch bis Sonntag (28.8.) im PACT Zollverein zu sehen.
Die kollektive Suche nach künstlerischem Ausdruck und das sich darin treiben Lassen wirken heute wie eine Reminiszenz an vergangene Zeiten, in denen der Entstehungsprozess bereits als das eigentliche Kunstwerk galt. Überhaupt erscheint das halbe Dutzend überwiegend noch sehr junger Performer wie etwas aus der Zeit gefallene Blumenkinder – ohne jede Scheu davor, immer mal wieder ins Infantile und Alberne abzugleiten und mit großer Lust am Exzessiven. Das Unperfekte wird dabei gar angestrebt. Man mag das sympathisch finden, technisch anspruchsvoller Tanz bleibt dabei allerdings oft auf der Strecke. Modern Dance im konventionelleren Sinne gibt es nur in einzelnen Szenen zu sehen. Der Rest wirkt eher wie kollektive Selbstfindung in Bewegung.
Anders als die Vorjahresproduktion „Until our Hearts stop“ ist das „Notebook“ schon seit drei Jahren auf Tour. Man merkt es dann, wenn die Aufführung dieses Mal recht punktgenau zu einem Ende kommt und der Zeitrahmen von knapp zwei Stunden gewahrt wird. Dass die Spontaneität der Aufführung gelitten hätte, lässt sich hingegen nicht feststellen. Atmosphärisch und auch in der Anordnung von Kulissen und Bestuhlung so angelegt, erscheint „Sketches/Facebook“ als eine Art Zirkus der Möglichkeiten körperlichen, visuellen und musikalischen Ausdrucks – im sehr weit gesteckten Sinne.
Musikalisch hat das getanzte Notizbuch übrigens weit weniger zu bieten als die Vorjahresproduktion, zu der noch ein ganzes Trio aufspielte. Nun ist es noch ein einziger Musiker, der Elektrobeats abfährt, dazu Loops mit der E-Gitarre einspielt und ab und zu mal ein Schlagzeugsolo. Da er zwischendurch auch noch mit auf der Bühne agiert, wird es über längere Strecken zwangsläufig recht eintönig beim Soundtrack. Das Premierenpublikum applaudierte am Ende freundlich, aber wenig enthusiastisch.
„Sketches/Notebook“ | 26., 27. und 28.8., jeweils 20 Uhr | PACT Zollverein, Essen 0221 280 210 | www.pact-zollverein.de
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