Sobald die Tage kürzer werden, wird in der Freizeit der eigene Energiesparmodus eingeschaltet. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Statt sich draußen im Park mit kühlem Erfrischungsgetränk sportlichen Aktivitäten hinzugeben, kramt man hinten im Küchenschrank nach Tee, um sich mit diesem heiß Aufgekochten aufs Sofa zu lümmeln und sich unter der Kuscheldecke zu verstecken. Das erste Weihnachtsgebäck findet seinen Weg in den Speiseplan und die um Kerzen bereicherte Deko vermittelt ein heimeliges Gefühl. Die kirchlichen Feiertage, außer der des guten Martin, geben sich introvertiert, die Bewusstmachung des Todes und die Buße stehen auf der Agenda. Wehe dem, der diesen Zustand des melancholischen Einigelns stört. Doch das Kino im Oktober respektiert diese seelische Beschaulichkeit nur bedingt, gibt dieser nur das Mindestmaß an Nahrung und ruft stattdessen „Hallo wach“.
Der türkischstämmige Regisseur Fatih Akın scheute sich noch nie, drastische Bilder auf die Leinwand zu werfen. Nach „Gegen die Wand“ und „Auf der anderen Seite“ bringt er mit „The Cut“ ein leider noch immer heikles Thema ins Kino: den Genozid an den Armeniern. Das Gräuel nicht beschönigend sondern vielmehr in seiner ganzen Abscheulichkeit darstellend, findet Akın dennoch mit seinem Protagonisten eine persönliche Ebene und hofft, dass der Film auch in der Türkei gehört wird. Das Lehmbrucker Museum und das Filmforum Duisburg nehmen ihr Programm wörtlich: mit der Reihe „Zeichen gegen den Krieg“, deren Filme über verschiedene Ansätze die Grauen verbildlichen, mal märchenhaft-tragisch in „Das Leben ist schön“, mal grotesk-irrsinnig in „Wie ich den Krieg gewann“ und mal satirisch-hoffnungsvoll in „Sein oder Nichtsein“. Auch das 4. Filmfest homochrom, das in Köln und Dortmund stattfindet, macht keinen Halt vor grausamen Tiefpunkten der Geschichte und führt mit der Doku „Triangles: Witnesses of the Holocaust“ die persönlichen Schicksale verschiedener LGBT-Menschen im Dritten Reich vor Auge.
Doch es sind nicht nur Schrecken und Abscheulichkeiten, die wachrütteln und bannen, es sind auch eindrucksvolle Geschichten sowie Entscheidungen von charakterstarken Menschen. Das weiß auch das Filmfest homochrom, das die Lebensrealität von Lesben, Schwulen und Transgendern in ihrer breiten Vielfalt aufbereitet. Ob heiter, ernst, schräg oder provokant, die Filmbeiträge sind nie belanglos. In “Happy End?!“ begibt sich die lebensunlustige Lucca mit der resoluten Valerie und einer Urne auf einen spannenden Roadtrip, in „Der Kreis“ kämpfen ein schüchterner Lehrer und ein Travestie-Star für die Rechte der Schwulen in der Schweiz wie auch in ganz Europa und in „The Foxy Merkins“ findet die obdachlose, erfolglose Anfängernutte Margaret eine Stammkundin. Mit vielen Premieren, Filmgesprächen und Gästen tritt die Schauburg Dortmund vom 22.-26. Oktober dem Herbstgrau energisch entgegen.
Gegen die Monochromie stellt sich auch die Lichtburg mit großen roten Farbtupfern. Zu zwei Deutschlandpremieren wird der Teppich für die filmschaffende Prominenz ausgerollt, die mit „Hirngespinster“ und „Das Salz der Erde“ zwei Filme präsentieren, die selbst leuchtende Akzente setzen. Tobias Moretti und Jonas Nay gelingt es in „Hirngespinster“, die meist befremdliche Erkrankung Schizophrenie ernst und dennoch mit wirklich humorvollen Elementen nahezubringen, die laut Regisseur noch immer hinter der Realität zurückstehen. Der Meister des bewegten Bildes Wim Wenders dagegen widmet sich dem Bildermacher Sebastião Salgado. Die Lichtbilder des Star-Photographen erzählen dynamische Geschichten, die im Film zu einem Großen zusammengetragen noch gewaltiger wirken.
Der Herbst kann zwar kommen mit Kuscheldecke, Tee und verdientem Müßiggang, doch es lohnt, sich vom Kino aus der Comfort Zone reißen zu lassen.
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