Alle elf Minuten verliebt sich ein Single auf einer Datingplattform im Internet. Mal angenommen, das würde stimmen: was passiert danach? Wäre es nicht praktischer, wenn sich jeweils mindestens zwei Personen verlieben würden? Kann Computerliebe überhaupt glücklich machen? Was hat sich an der PartnerInnensuche geändert, seitdem uns das digitale Reich der schier unbegrenzten Möglichkeiten zur Verfügung steht?
Man kennt das: je mehr Joghurts im Regal, desto schwerer die Auswahl. Ein Hoch auf alle, die feste Prinzipien haben. Ob religiöser Moralist, Vegetarians-only oder freischwingende Fetischistin, je festgelegter die eigenen Kriterien, desto schmaler sind die Optionen. Alle anderen haben schon dann die Qual der Wahl, wenn es erstmal um die passende Plattform geht: lieber Tinder für den kurzen Spaß oder doch ElitePartner für die langfristige Versorgung; welche Hobbies erfinde ich, um mich attraktiv zu machen; ein Foto mit Pudel oder besser eins mit Porsche – und was ist mir wirklich wichtig an der Beziehung zu anderen Menschen?
Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach nutzt knapp eine Million Deutsche ab 14 Jahren das Internet häufig für Singletreffs, Kontaktanzeigen oder Partnerbörsen, über zwei Millionen tun dies gelegentlich. Andere Untersuchungen sprechen sogar von 8,5 Millionen aktiven Usern. Die Sehnsucht nach dem perfekten Gegenüber ist groß, schließlich glaubt laut Allensbach mehr als jeder zweite Deutsche an Liebe auf den ersten Blick. Deutschland, Du Land der Romantiker? Wohl eher ein Erbe der Epoche des aufkommenden Kapitalismus, als sich die Sphären des Öffentlichen und Privaten herausbildeten. Gefühlsmäßig zog man sich zunehmend in die eigenen vier Wände zurück, das häusliche Leben mit dem einen, einzigen Seelenpartner sollte für die emotionale Kälte und den harten Wettbewerb in der Welt „da draußen“ entschädigen. Doch dank Tinder & Co ist nun auch diese Illusion Geschichte.
Stichwort Overchoice-Effekt: Unter den fest Liierten fragt sich jeder bzw. jede Vierte, ob es nicht doch jemand Besseres gibt, so eine weitere Allensbach-Studie. 42% der Tindernutzer sind keine Singles, ermittelte der Globalwebindex 2015. Klingt nach einer tiefen Verunsicherung: Zu der Frage „bin ich gut genug?“ kommt die Frage „ist mein Partner gut genug?“. Angesichts der Massen von Konkurrenten und Kandidaten treibt die Technologie den Einzelnen in einen grotesken permanenten Wettbewerb. Auch finanziell – bei den meisten Datingportalen muss zahlen, wer überhaupt Kontakte erzielen will. Trotz leidlich guter Testergebnisse bei Stiftung Warentest füllen die Beschwerden über Knebelverträge und falsche Versprechungen der Anbieter ganze Foren.
Wenn das Liebeswerben reine Selbstvermarktung wird, und die Wahl des Partners vor allem der Selbstoptimierung dient, hat die Romantik als vermeintlicher Schutzraum des Individuums ausgedient. Privates wird in Profile gepresst, intimste Sehnsüchte in technische Vorgänge kanalisiert. Es kann nur gelten, nur gedacht, gesagt und gefühlt werden, was in diese vorgegebenen Schemata passt. Die dem Digitalen inhärente Distanz erfordert Verkäufercharme, taktisches Denken, Selbstzensur. Es ist nicht einfach, ohne direkten physischen Kontakt die Beliebigkeit zu reduzieren und zusammen Räume für das Unsagbare zu öffnen. Und dennoch: Gerade im virtuellen Raum kann eine ungeheure Intimität erwachsen. Die Anonymität senkt Hemmschwellen, nonverbale Signale fallen weg, gerade die anfängliche psychologische Distanz zwischen den Akteuren erleichert das Anbahnen. Neben Flirt und permanenter Selbstbespiegelung ist ebenso das digitale Verlieben möglich. Sobald man das Gegenüber entkörperlicht als „reales Selbst“ zu erleben glaubt, hat das virtuelle Begehren ungeahnte seelische Tiefen erreicht. Auch auf diese Weise lässt sich zu einer neuen Art von Zärtlichkeit finden.
Doch eines ist klar: Weder OkCupid noch der alte Pfeilkünstler Amor kann uns die eigene Verantwortung abnehmen. Also, lassen wir die neuen digitalen Lügen, und die alten romantischen gleich mit. Beziehungen gestalten müssen wir immer noch selbst. Egal, wo ich meinen Partner, meine Partnerin oder den Plural davon kennenlerne, es kommt einfach immer wieder der Moment, in dem ich mich entscheiden muss. Für gewisse Personen und gegen andere. Neue Zärtlichkeit ist mehr als ein Wisch nach rechts auf dem Handy. Mit ihr beginnt das Eingehen auf die Einzigartigkeit der Welt des Anderen. Beim Wagnis Liebe hilft uns keine App der Welt. Nur der eigene Mut und die Neugier auf das, was nicht in Fragebögen passt.
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