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Elke Heinemann
Foto: privat

„Essen ist arm, aber ratlos“

31. Juli 2019

Schriftstellerin Elke Heinemann über den Wandel der Stadt Essen – Über Tage 08/19

trailer: Frau Heinemann, Ihr aktueller Roman „Fehlversuche. Kein Kinderbuch“ beginnt mit der Frage: „Warum nicht mit dem Ort beginnen?“ Sie haben Essen sehr früh in Ihrem Leben verlassen, um nach Berlin zu ziehen. Wie erleben Sie die Stadt heute, wenn Sie zurückkehren?
Elke Heinemann: Meine Eltern sind vor langer Zeit verstorben, daher waren meine Besuche in Essen während der letzten 15 bis 20 Jahre unregelmäßig und kurz. Aber natürlich nehme ich Veränderungen wahr. Wenn ich an Orte zurückkehre, an denen ich lange gelebt habe und die mir wichtig waren, bemerke ich allerdings zunächst, wie sehr ich mich selbst verändert habe. Man ist ja immer mit sich selbst zusammen. Man hat wenig Distanz zu sich selbst. Und dann kehrt man zurück an einen Ort, den man vor langer Zeit verlassen hat und stellt fest, dass man nicht mehr diejenige ist, die man damals war.

Und wer war Elke Heinemann damals?
Nach dem Abitur bin ich bewusst in den Essener Norden gezogen. Von meinem Arbeitszimmer aus konnte ich Schacht XII sehen. Damals wurde dort noch gefördert. Als ich mein erstes eigenes Zuhause einrichtete, habe ich mich für diese Gegend entschieden, weil ich dort leben wollte, wo mir das Ruhrgebiet authentisch erschien.

Worin unterscheidet sich für Sie Essen beispielsweise von Berlin?
Klaus Wowereit hat als Regierender Bürgermeister Berlins über seine Stadt gesagt: „Wir sind arm, aber sexy!“ In Essen könnte es heißen: „Wir sind arm, aber ratlos!“ Trotz aller Bemühungen, sich neu zu erfinden, trotz des Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft entsteht der Eindruck, dass man sich hier nicht vom Image der Arbeiterstadt lösen kann, die gleichwohl Geschichte ist.

Ihr aktueller Roman spielt im Ruhrgebiet der 60er Jahre. Welche Veränderungen stellen Sie heute fest?
Der Strukturwandel hat natürlich massive Veränderungen bewirkt: Die Umwelt ist nicht mehr so stark belastet. Auch hat es einen kulturellen Aufbruch gegeben – eine Ästhetisierung auf vielen Gebieten. In den 60er-Jahren gab es hier noch keine Universität. Essen war eine Arbeiterstadt, geprägt durch Kohle und Stahl. Heute gibt es das nicht mehr. Das habe ich in einigen Texten beschrieben. Mein aktueller Roman „Fehlversuche. Kein Kinderbuch“ endet mit einer Überflutung des Ruhrgebiets: Das unterhöhlte Ruhrgebiet als brüchiges Gelände ist hier ein metaphorischer Raum, denn die Kindheit, die ich beschreibe, ist ebenfalls brüchig.

Zum Stichwort „Ästhetisierung“: Erscheint Ihnen Essen wie ein großes Museum? Immerhin sind viele einstmalige Industriegebäude wie Zollverein heute Kulturstätten.
Etwas ist mir jetzt zum ersten Mal aufgefallen: Es gibt in der Essener City einen Shop, in dem man den Förderturm der Zeche Zollverein in allen möglichen Varianten kaufen kann – als Seife, als Bonbon, als T-Shirt-Aufdruck. Eine gewisse Verkitschung findet also statt. Aber das ist ja überall so. Schacht XII wirkt auf mich wie der Kölner Dom des Ruhrgebiets. Auf andere, wie ich irgendwo gelesen habe, wirkt er wie der Eiffelturm des Ruhrgebiets. Kölner Dom finde ich allerdings passender (lacht). Auf diese Weise versucht man, sich eine Identität zu geben. Da geht es auch um Corporate Design und Marketing. Ich habe eine sehr gute Broschüre über Zollverein gelesen, aber an einigen Stellen Fragezeichen notiert – beispielsweise wenn es heißt, dass man die Bevölkerung der umgrenzenden Stadtteile in das kulturelle Geschehen mit einbeziehen möchte. Wie will man das erreichen? Die Leute gehen ja nicht täglich ins Museum oder in eine Ausstellung.

Wie man das erreichen will, weiß ich nicht. Aber es scheint, als gebe es neben dem musealen Essen noch ein anderes Essen: In dieser Stadt liegt die Armutsquote nämlich derzeit bei 20 Prozent. Jedes vierte Kind ist von Armut betroffen. In „Fehlversuche“ schreiben Sie, dass es schwierig sei, von einer „Einheit des Ortes“ zu sprechen, wenn Seelen – vor allem die Seelen der Kinder – verletzt worden sind.
Im Essener Norden gibt es viele soziale Brennpunkte. Eine meiner Cousinen leitet als Diplom-Pädagogin in Essen-Katernberg eine Institution, in der nur ein weiterer Mitarbeiter beschäftigt ist. Man bräuchte aber in einem solchen Krisenstadtteil viel mehr ausgebildete Sozialarbeiter und kompetente Streetworker. Es hilft nicht, wenn Politiker und Manager davon sprechen, die Bevölkerung des Essener Nordens in das kulturelle Geschehen auf Schacht XII einbeziehen zu wollen. Es gibt dort soziale und wirtschaftliche Probleme, die nach anderen Lösungen verlangen.

Interview: Benjamin Trilling

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