Das Jahr, in dem die sogenannten Wiedereinsätze und Reprisen großflächig aus den regulären Kinoprogrammen verschwanden, lässt sich ziemlich genau beziffern: 1986, ein Jahr nach „Otto – Der Film“ und der Wiederentdeckung von Billy Wilders „Eins, Zwei, Drei“, herrschte in den westdeutschen Kinos plötzlich Klassiker-Ebbe.
Filme wie „Spiel mir das Lied vom Tod“, „Blues Brothers“, „Vier Fäuste für ein Halleluja“, „Das Leben des Brian“ oder „Einer flog über das Kuckucksnest“ wurden plötzlich nicht mehr ins normale wöchentliche Programm integriert, sondern nur noch für Sonderplätze disponiert und dann bald gänzlich von den Kinoleinwänden verbannt.
Die ganzen 1980er Jahre hindurch hatte die Kinobranche über das Fernsehen gewettert, das zur besten Sendezeit die großen Kinoklassiker zeigen und damit das Kino erheblich beschädigen würde. Heute, drei Jahrzehnte später, ist die Situation genau umgekehrt. Die großen TV-Sender zeigen praktisch gar keine Filmklassiker mehr – und wenn, dann nur mitten in der Nacht oder auf speziellen Spartenkanälen. Auch die Streamingdienste als Nachfolger der Videotheken haben Hollywood nur zum Ködern von Kunden benutzt und dann nach und nach alle Lizensierungen runtergefahren.
Und nun passiert tatsächlich, was viele Jahre lang als völlig unrentabel galt: Die Kinos selbst, jahrelang gefangen in einem fast schon absurden Gegenwartswahn, dem der Multiplexboom in die Hände zu spielen schien, holen sich ihre Geschichte zurück ins Haus. Plötzlich stehen wieder „Uhrwerk Orange“, „2001 – Odyssee im Weltraum“, „Zurück in die Zukunft“ und zahllose andere Werke der letzten Jahrzehnte wie selbstverständlich auf dem Spielplan. Natürlich nicht jeden Tag, aber doch immer öfter.
Staunend darf man erleben, dass sich das Kino endlich wieder abkapselt vom ständigen Neuigkeiten-Fluss, der an der Seite von dauernervösen Medien mit kriegsfloskelhaften „Lagen am Morgen“ und „Breaking News“ den Spielfilm als Relikt verramschen möchte.
Ein Blick auf John Hughes im wahrsten Sinne des Wortes zeitlosen Teenagerfilm „Ferris macht blau“ – ausgerechnet aus dem Jahr 1986 – macht deutlich, was das Kino auf ewig dem Relevanz-Firlefanz der Tagesschauen und „Tatorts“, der endlosen Statusmeldungen und Serien voraus hat: Mit Witz und Charme findet ein faulenzender Schüler hier ausgerechnet beim Innehalten den größten Lebensspaß.
Das Kino kann Pointe und fördert Muße. Es ist noch immer auf der Seite der Menschen, was man von vielen anderen Erfindungen der letzten 150 Jahre ganz sicher nicht behaupten kann. Und es braucht die Fürsprache der Politik nur bedingt. Denn einen älteren Film im Kino zu sehen, womöglich zwischen den Mauern, wo er vor Jahrzehnten auch seine Erstaufführung feierte, kann die Wertschätzung fürs Kino mehr fördern als alle Sonntagsreden.
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