trailer: Herr Hilsdorf, demnächst kommen Sie wieder nach Essen mit einer Inszenierung, die vor knapp vier Jahren in Dresden zu sehen war und dort von der Kritik gefeiert wurde. Wie ist das für Sie, eine fertige Inszenierung noch einmal mit einem neuen Ensemble auf die Bühne zu bringen?
Dietrich Hilsdorf: Herr Mulders, der Essener Intendant, hat mich vor zwei Jahren vor der Premiere von „Kain und Abel“ angesprochen und mir gesagt, er hätte eine ganz wunderbare Inszenierung von mir in Dresden gesehen. Und er hat mich gefragt, ob er die nicht kaufen könnte für Essen. Grundsätzlich mache ich ja lieber was ganz Neues. Es gibt so viele schöne Opern und die Lebenszeit ist begrenzt. Nun habe ich sieben Wochen für die Proben und könnte es prinzipiell auch ganz neu machen. Aber es gibt ja schon die Bühne von Johannes Leiacker, mit dem ich in Essen schon viel gemacht habe, und die Kostüme. Und optisch ist es damit so, wie es ist. Es gibt ein paar Sachen mit dem Chor, die werden sicher noch viel besser werden als in Dresden. Und einige der Solisten kenne ich auch schon aus „Kain und Abel“. Da kann man nur sagen: Das scheint eine sehr gute Besetzung zu sein. Und wenn die Zutaten zum Kuchen stimmen, dann kann das nur gut werden. Wir haben das in Dresden in der Provinz ausprobiert und zeigen das jetzt in der Theaterhauptstadt: in Essen.
Manch einer hat sich vielleicht auch gewundert, dass Sie überhaupt Donizetti inszenieren.
Ich habe früher viel Widerstand entwickelt gegen Belcanto und habe immer gesagt: Das sollen Bühnenbildner inszenieren. Die machen dann schöne Bilder und dazu wird schön gesungen. Aber ich habe in Dresden viel gelernt darüber, wie man diese langen Vor- und Zwischenspiele szenisch wirkungsvoll einsetzen kann. Ich kann nicht warten, wenn das Orchester spielt und die Figur noch nicht bereit ist für das, was sie singt. Das muss man szenisch ausprobieren und erproben. Und das ist mir in Dresden offenbar sehr gut gelungen. Und ich bin gespannt, wie es jetzt wird. Denn die Geschichte selbst ein unglaublicher Kriminalfall, angeblich nach einem echten Geschehnis geschrieben von Walter Scott. Üblicherweise ist es ja so, dass sich zwei Rivalen gegenseitig umbringen oder die Frau wird umgebracht. Hier ist es die Frau, die tötet. Das ist eine Umkehrung der üblichen Konstellation. Es ist ein Krimi, es ist eine Geistergeschichte. Das Stück ist geschrieben um 1819. Direkt im Jahr davor hat Mary Shelley Frankenstein geschrieben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kumuliert das Erzählen über das Unheimliche. Gleichzeitig ist das auch die Zeit von Siegmund Freud und der Psychoanalyse. Das ist im Zusammenhang mit dem Wahnsinn der Lucia interessant. Und man kann sich fragen: Ist sie nun wirklich wahnsinnig oder ist das nur vorgetäuscht? Dann ist es auch ein bisschen wie Romeo und Julia mit zwei verfeindeten Familien. Da lieben sich eine junge Frau und ein junger Mann und das darf nicht sein. Man ahnt schon: Es wird Tote geben.
Jetzt haben Sie in Dresden ja eher den Fokus auf das Machtgefälle innerhalb der Familie von Lucia gelegt.
In der Oper spielt die Familienfehde nicht so eine große Rolle wie in der Romanvorlage. Die Handlung ist verkürzt. Man sieht im Grunde nur die eine Familie. Und da habe ich in der Tat ein bisschen dran geschraubt. Ich habe zum Beispiel aus dem Kaplan in der Oper einen älteren Bruder gemacht, der nur im Roman vorkommt. Heraus kommt ein Psychoterror zweier Brüder, die die Schwester kirre machen. Das läuft auf eine Konstellation hinaus, die wir heute aus den sogenannten „Ehrenmorden“ kennen. Wenn du nicht tust, was die Familie will, dann musst du eben sterben.
Sie haben den Zeitrahmen aber etwas näher an uns herangerückt ins frühe 20. Jahrhundert.
Ich hatte da eine Gesellschaft wie im Film „Das weiße Band“ vor Augen: Schwarz gekleidete Leute, die sowohl zur Beerdigung als auch zur Hochzeit ihren besten Anzug tragen. Nur Lucia ist ganz in Weiß. Die Kostüme von Gesine Völm, mit der ich in Dresden zum ersten Mal zusammengearbeitet habe, sind sehr realistisch. Die sind nicht nur entworfen, sondern aufs Feinste zusammengesucht und zusammengetrödelt. Das ist ein sehr schöner Realismus.Und die Zeit passt gerade noch. Es gibt da zum Beispiel auch in Deutschland noch kein Wahlrecht für Frauen. In dieser Zeit kann man die Geschichte gerade noch erzählen.Wären wir noch weiter an uns herangerückt, müsste man schon eine Geschichte über Einwanderer erzählen, die etwa die Tochter umbringen, weil sie mit einem nicht-muslimischen Mann ausgeht. Aber das wäre eine andere Geschichte.
Wie geht denn Ihre Geschichte?
Wir haben sehr genau in den Roman hineingeschaut und haben daraus die tote Mutter genommen. Die liegt im offenen Sarg, und Lucia wird von den Männern in der Familie ganz offen bedroht. Man macht ihr klar, dass sie eine Hure ist, wenn sie etwas mit einem Mann aus der verfeindeten Sippe anfängt.Und als Lucia alleine ist, kommt aus dem Sarg plötzlich die tote Mutter. Das ist schon eine echte Gespenstergeschichte wie bei Edgar Allen Poe oder E.T.A. Hoffmann, also eine dieser romantischen Geschichten, wo das Unterbewusste Realität wird.
In Dresden gab es überschwänglich gute Kritiken – aber auch Buhrufe nach der Premiere. Trifft Sie sowas noch? Oder weckt es vielleicht sogar Ihren sportlichen Ehrgeiz?
Die Essener, die können ja ein Lied davon singen. Also, diese Buh-Orgien zu den Verdis in Essen, die habe ich noch im Ohr. Und auch später gab es das immer mal wieder. Aber in Dresden ist das Publikum ja völlig anders zusammengesetzt. Da gibt es viele Touristen, Leute, die sagen: Das habe ich aber schon einmal woanders so und so gesehen. In Essen waren wir ja alle zusammen seit 1988, also über 30 Jahre, und da hat es auch andere kontrovers diskutierte Inszenierungen etwa von Barry Kosky (Anm. d. Verf.: Wagners Fliegender Holländer, der 2006 für einen international wahrgenommenen Eklat sorgte) gegeben. Das Essener Publikum ist ja durchaus erfahren im Aufnehmen von neueren Gedanken. Und insofern erwarte ich dort eher ‘ne Bravo-Orgie.
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