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„Kula – Nach Europa“
Foto: Luca Abbiento

„Die innerpolitischen Ängste abtragen“

29. September 2016

Transnationales Theaterprojekt „Kula – Nach Europa“ in Bochum – Premiere 10/16

Trotz monatelanger Bemühungen hat die afghanische Theatergruppe Azdar von der Deutschen Botschaft in Kabul keine Visa erhalten. Robert Schuster kommt dennoch mit seinem Projekt nach Bochum. „Kula“ ist der Name eines Tauschsystems in Neuguinea.

trailer: Herr Schuster, wie wichtig wären die afghanischen Schauspieler für die Inszenierung gewesen?
Robert Schuster: Die sind und waren zentral für die Fragen, die wir uns gestellt haben. Begonnen haben wir ja unmittelbar nach den Ereignissen bei Charlie Hebdo. Da haben wir uns gefragt, sind wir noch Teil der Lösung oder schon Teil des Problems? Deswegen haben wir ein gemischtes Ensemble aus Frankreich und Deutschland aufgestellt und ein weiteres nichteuropäisches Ensemble eingeladen, um eben diese Frage zu stellen. Da ist natürlich die Anwesenheit eines nichteuropäischen Ensembles, in diesem Falle des Azdar Theaters aus Afghanistan, von zentraler Bedeutung. Dass sie nicht da waren, hat natürlich viel darüber erzählt, wie Europa momentan verfasst ist.

Hat der mediale Ist-Zustand das Theater als Forum nicht längst überholt?

Robert Schuster
Foto: Michael Bamberger

Zur Person

Robert Schuster (*1970) studierte Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Von 1999 bis 2002 leitete er mit Tom Kühnel das TAT im Bockenheimer Depot in Frankfurt, 2001 wiederbelebten sie dort die Tradition der experimenta. Seit 2000 inszeniert Schuster u. a. in Basel, Bremen, Freiburg, Leipzig, am Deutschen Theater Berlin und am Schauspiel Frankfurt. Seit 2004 ist er zudem Professor für Regie an der „Ernst Busch“.


Das Theater hatte immer auch eine Sonderstellung in den öffentlichen Diskursen. Aber Sie haben natürlich Recht, dass durch diese mediale Beschleunigung das Theater, aber auch die Demokratie in eine große Herausforderung geraten ist. Alles geht so schnell hin und her, der Abtausch von Meinungen, dass eine seriöse, ruhige Suche nach gemeinsamen Lösungswegen oder Werten permanent in Frage gestellt wird.

Hatten wir denn in Europa jemals europäische Werte?
Ja, ich glaube schon. Es gab zwar keinen verbindlichen Kanon, der jetzt bröselt, aber man hat sich einfach viele Jahre darauf verlassen, dass es gemeinsame Teile gibt. Da muss man allerdings auch mal knallhart sagen, dass es nach dem blutigen 20. Jahrhundert und den auch davor schon oft kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Europas natürlich vorwiegend nationalstaatliche Werte gab und gibt. In Abgrenzung zu Amerika und zu anderen Kontinenten gibt es gemeinsame Traditionslinien. Aber wie sehr die jetzt auch dazu beitragen, dass es eine Identitätsbindung untereinander gibt, die dann auch bei Krisensituationen Bestand hat, ist schwer zu sagen, man merkt schon, dass es da Defizite gibt, sich darüber zu verständigen.

In den Kammerspielen lief bereits „Lampedusa“ von Anders Lustgarten. Ist „Kula – Nach Europa“ dafür Vorgeschichte oder eher Ursachenforschung?
Interessanterweise war unser Thema überhaupt nicht, ein Flüchtlingsstück zu machen. Wir haben gesagt, wir wollen nicht das 15. Projekt dazu machen. Auch nicht die Flüchtlinge, die irgendwie in einem Lkw eingeschweißt waren, auch noch ästhetisch rahmen. Wir sagen, wir haben in Europa diese Herausforderung, wer kann uns helfen? Deswegen laden wir auch ein Theater aus Afghanistan ein, das bereit ist, mit uns zusammen kleine Stücke zu machen, die wir dann vielleicht auch in Flüchtlingsheimen spielen oder mit denen wir auch Ängste innerhalb der europäischen Öffentlichkeit abbauen können, indem sie uns und die Kultur kennenlernen. Wir haben auch, sowohl in der Vorbereitungsphase als auch in der konkreten Arbeitsphase festgestellt, dass sich immer dieses falsche Thema in unsere Fragen hineindrängt – wir wollten anhand dieses Rituals aus Neuguinea immer ein Fest machen, um so die innerpolitischen Ängste ein bisschen abzutragen. Aber es wird immer nur darüber gesprochen, dass das potentielle Sozialhilfeempfänger sind, möglicherweise auch irgendwie gefährliche Menschen – anstatt dass man sagt: Was können wir vielleicht auch von ihnen lernen und wie kann das freundschaftlich passieren. Das Genre dieses Festes wurde jetzt von der Politik natürlich überschrieben, auch das Genre selbst wurde ja überschrieben. Durch diese zunehmende Angst in Europa wird dieses Thema immerzu verengt. Und das ist Teil des Problems, vor dem wir gerade stehen.

In Weimar oder Bochum spielen – macht das einen Unterschied?
Bei Bochum und Weimar ist die Differenz zur Entfernung von Papua-Neuguinea wahrscheinlich sehr ähnlich. Aber es gibt schon große Unterschiede im Verhältnis zur Geschichte, zu einem so großen historischen Prozess. Da sind natürlich Zuschauer in Ostdeutschland mit einer anderen Erfahrung ausgestattet, als die in Westdeutschland, weil sie dieses „Darüberrollen der Geschichte“ vor 25 Jahren live erlebt haben. In Westdeutschland ist das auch so – aber anders. Und wenn man dann nochmal 400 Kilometer weiter in Mulhouse spielt, dann ergibt sich für uns der Sinn in der ganzen Sache.

Gibt es Erwartungen insbesondere auch an die Zuschauer?
Na ja, das weiß ich nicht. Die Frage finde ich insofern sinnvoll, weil wir in Kunst- und Öffentlichkeitsräumen schnell auch in die Falle geraten, dass wir uns gegenseitig der gemeinsamen Werte vergewissern. Dann macht das irgendwo keinen Sinn mehr. Ich glaube, das ist auch ein Teil der Problemlage gerade, dass sich sowohl in Frankreich als auch in Deutschland das politische Establishment so null aufeinander bezogen hat und bestimmte Bevölkerungsteile nicht in den Diskurs eingebunden hat. Wir haben damit gearbeitet, dass bei uns nicht die moralisch gute Seite die Antworten liefert und wir uns gegenseitig beklatschen, sondern dass man sich mit Fragen an einen Punkt begibt, an dem wir auch nicht weiter wissen. Wenn man mal gemeinsam den Mut hat zu sagen, da wissen wir auch keine schnellen Lösungen. Da nützt es auch nichts, jeder Meinungsforschungswissenschaft hinterher zu laufen.

„Kula – Nach Europa“ | R: Robert Schuster | Fr 7.10.(P), Sa 8.10. 19.30 Uhr, So 9.10. 19 Uhr | Kammerspiele | 0234 33 33 55 55

INTERVIEW: PETER ORTMANN

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