Leerstand inspiriert: Das Rohe, Vorläufige verlassener Büroräume beflügelt künstlerischen Gestaltungsdrang. Und so eröffnet der Dortmunder Kunstverein sein neues Domizil in einem ehemaligen Versicherungsbüro am Dortmunder U bereits vor der Sanierung. Noch liegen Kabelschächte offen, Bodenbelag fehlt, keine Lampen, keine Lüftung – die einst repräsentable Businessimmobilie mit stylischer Wendeltreppe und hohen Fensterfronten verströmt Melancholie. Nun bringt eine junge israelische Kunstszene wieder Leben in die Bude.
In Kooperation mit dem Center for Contemporary Art (CCA) Tel Aviv lud der Kunstverein ein dreiköpfiges Künstlerkuratorenteam ein, um ihre Installation „Blade Memory“ als Parcours über zwei Ausstellungsebenen zu gestalten: Die drei wählten Werke von 13 Zeitgenossen aus, kombinierten sie mit Arbeiten von Max Ernst, George Grosz und Martin Kippenberger und arrangierten alles inmitten der provisorischen Architektur. Die Exponate verbindet ihre legere Machart aus Alltagsdingen und materialien. Poesievoll werden hier Grenzen verwischt: Was ist vorgefundenes Inventar, was Kunstwerk, was Inszenierung?
Schon die Eingangssituation irritiert: Ein L-förmiger Tresen richtet seine spitze Ecke wie abwehrend auf die Eintretenden. Auf seiner Platte tickt eine Wanduhr; ihre Zeiger schieben Zigarettenkippen über das Ziffernblatt. Ein Desktopgehäuse auf dem Boden ist aus Holz und hohl, innen Minimöbel statt Platinen. Brotduft erfüllt den Kunstverein: 600 gebackene Buchstaben, geordnet in einem wandhohen Regal, bilden einen ABC-Baukasten für ungeschriebene Texte.
Da stehen, hängen, liegen Objekte aus Ästen, Federn, Kabeln, Drähten, auch ein hohler Alu-Ölzweig, aus dem ein Flämmchen züngelt. Alles hier ist ‚handmade‘, analog, temporär, mitunter leicht grob, wie die flüchtig an Bürostellwände gepinnten Zeichnungen von Äxten, Bäumen, Körpern, Köpfen. Oder die dekorative weiße Blattranke in einem Zimmerteich, das Resultat einer Chlorbleichattacke. Was zunächst so leicht und improvisiert wirkt, ist zweischneidig: Das Ensemble fügt sich so gut in den 2000er-Jahre-Bau, weil sein Hang zu Materialästhetik aus der Zeit gefallen scheint und wehmütige Erinnerungen weckt an entschleunigte, prädigitale Zeiten.
Blade Memory II (Kooperation mit CCA Tel Aviv-Yafo) | bis 31.7. | Dortmunder Kunstverein | 0231 57 87 36
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