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Sonja Jüngling
Foto: Anita Gryz

„Bin ich eifersüchtig oder eher neidisch?“

28. Mai 2024

Teil 1: Interview – Paarberaterin Sonja Jüngling über sexuelle Kontakte außerhalb einer Paarbeziehung

trailer: Stellt sich für viele Paare die Frage danach, die eigene Beziehung für andere Sexualpartner zu öffnen. Stolpern sie in diese Herausforderung?

Sonja Jüngling: Das ist natürlich eine subjektive Einschätzung, aber ich würde sagen, dass ungefähr 60 bis 70 Prozent der Menschen da so reinstolpern. Weil es ein Verliebtseinsgefühl gibt, ein enges Gefühl oder ein offenes Bedürfnis. Oder weil es eine Affäre gibt und dann die Idee einer offenen Beziehung im Raum steht. Ich würde sagen, 30 bis 40 Prozent entscheiden sich tatsächlich einvernehmlich, bevor irgendetwas passiert und wollen dann gemeinsam im richtigen Tempo durch den Prozess durchgehen. 

Ein Partner kann aber trotzdem auch in seinen Gefühlen verletzt sein, oder?

Also in dem Setting, in dem beide einvernehmlich daraufschauen, will ich nicht sagen, dass es keine Beziehungsverletzungen gibt, aber sie bleiben eher im Hintergrund. Bei den 60 bis 70 Prozent der Paare, die da, wie du so schön gesagt hast, reinstolpern, würde ich sagen, gibt es bei der Hälfte schon Verletzungen, ja.

„Absprachen werden gebrochen“

Wie kann das aussehen? 

Der Klassiker: Es gibt eine Beziehung, die schon so zehn, zwölf Jahre alt ist und die beiden wohnen vielleicht zusammen. Dann lernt eine:r eine neue Person kennen, z.B. auf der Arbeit oder im Freundeskreis. Und dann entstehen Schmetterlingsgefühle oder es entsteht die Idee. Eine Verletzung kann entweder schon bei dem Prozess entstehen, weil die eher monogam angelegte Person denkt „Wenn die andere Person sich verliebt, muss mit der Beziehung etwas nicht stimmen“. Das ist die eine Form der typischen Verletzung. Die andere Form ist, dass Absprachen gebrochen werden, also das Verliebtsein, körperlicher Kontakt, ein Date oder eine Heimlichkeit zu einer Beziehungsverletzung führt.

Was macht es mit der der eher monogam ausgerichteten Person, wenn Sexualität unabgesprochen mit jemand anderem stattgefunden hat?

Viele warten mit der Sexualität, also mit der Öffnung, bis alle damit einverstanden sind. Was macht es mit der monogamen Person? Es gibt ganz unterschiedliche Antworten darauf: Manche sagen „Ach, ist doch nur Sex, aber dass er:sie mich angelogen hat, finde ich schlimm“. Andere sind zutiefst verletzt und können überhaupt nicht verstehen, wie das passieren konnte. Wieder andere sagen, dass Sex stattgefunden hat, ist für sie gar nicht so das Problem. Aber, dass von einer Beziehung gesprochen wird, das macht ihnen fürchterlich Angst. Das wird natürlich oft verklausuliert und mit vielen Vorwürfen ausgedrückt, sodass es zu kommunikativen Missverständnissen kommt. 

„Eine Erweiterung des eigenen Horizonts“

Was erleben denn Paare, die sich für eine Öffnung entscheiden, als bereichernd? 

Was mir oft gespiegelt wird, ist, dass das Freiheits- und das Autonomiebedürfnis darüber gestillt werden kann. Auch Abwechslung, neuer Input und persönliches Wachstum wird oft genannt, einfach die Erweiterung des eigenen Horizonts. Natürlich spielt auch Abenteuerlust, auf Partys gehen eine Rolle – also auch sexuell konnotierte Partys oder sogar BDSM- oder Kinky-Partys. Vielen macht diese neu gewonnene Freiheit auch noch mal klar, was sie an der Bestandsbeziehung haben, also an der Beziehung, aus der sie kommen. Dass sie einfach als viel wertvoller wahrgenommen wird, weil einem plötzlich bewusst wird, was man hat. Das wird auch als bereichernd erlebt.

„Gefühle, die verarbeitet werden wollen“

Gibt es auch einen erhöhten Kommunikationsbedarf? Können die Partner vielleicht wieder zueinanderfinden, wenn sie sich ein bisschen aus den Augen verloren haben? 

Ja, definitiv. Das ist so. In Beziehungen braucht es grundsätzlich viel Kommunikation. Wenn aber mehrere Menschen beteiligt sind, braucht es noch mehr, da einfach ganz unterschiedliche Gefühle auftauchen, die auch verarbeitet werden wollen. Und Verbindung zwischen Menschen entsteht ja durch Kommunikation und körperlichen Kontakt. Da ist es natürlich immer günstig, viel zu reden. Und es braucht in diesem Zusammenhang sowieso mehr Absprachen, natürlich. Darüber rücken die Paare oft wieder näher zusammen, weil plötzlich Dinge an der anderen Person entdeckt werden, die vorher gar nicht so bekannt oder bewusst waren. Die Menschen lernen sich noch mal auf einer ganz anderen Ebene kennen. Ich kenne tatsächlich auch Paare, die ihre Beziehung geöffnet und dann wieder geschlossen haben. Sie haben sie beispielsweise aus Gründen der Abenteuerlust geöffnet. Dann haben sie sich zwei, drei Jahre ausgelebt und dann gemerkt, dass es auch nachteilig sein kann, polyamor [= mit dem Einverständnis aller Beteiligten Liebesbeziehungen mit mehreren Menschen pflegen; d. Red.] zu leben. Final haben sie sich dann gemeinsam wieder dazu entschieden, monogam zu leben. In der polyamoren Phase haben sie aber durchaus einen deutlichen Mehrwert für ihre Beziehung gesehen. Manche berichten auch über einen Mehrwert an Verletzungen. Sie wachsen in dieser Phase gemeinsam durch die zusätzlichen Herausforderungen, denn natürlich liegt darin auch ein latentes Verletzungspotenzial. Leider ist es ja nicht allgemein bekannt, wie man gut polyamor leben kann. Das heißt, wir haben alle keine Anleitung dafür, worauf man in dieser Beziehungsform eigentlich aufpassen muss.

„Man kann sich noch so sehr absichern und dann passiert das Leben“

Was bringen denn Regeln? 

Regeln bringen Klarheit. Aber ich spreche in diesem Zusammenhang nicht so gern von Regeln, sondern lieber von Absprachen. Gemeinsame, wirklich gut verhandelte Absprachen mit einer großen Freiwilligkeit bringen viel. Sie bringen Klarheit, sie bringen Sicherheit, aber auch die ist nicht hundertprozentig. Ich hatte mal ein Paar, das gesagt hat: Die eine Person geht jetzt auf eine Party und darf flirten, aber nicht küssen. Und sie dachten, sie hätten alles vorher geklärt. Dann kam diese Person nach Hause und dachte, alles wäre super, hatte aber eine Telefonnummer dabei. Die Person, die zu Hause geblieben war, war total verletzt. Denn sie dachte, sie hätten abgesprochen, dass es nur zum Flirten kommt. Die andere Person erwiderte, dass sie über Telefonnummern gar nicht gesprochen hätten und es nur ein Kontakt wäre, der zum Tanzen gedacht sei. Das Paar hat sich super schnell wieder berappelt, da es an sich eine gute Kommunikation hatte. Das soll aber exemplarisch dafür stehen: Man kann sich noch so sehr absichern und dann passiert das Leben. Und eigentlich ist es ganz schön, wenn kleinere Fehler zu Beginn des Prozesses bei Absprachen passieren, damit eine gewisse Fehlertoleranz und auch eine Awareness dazu entsteht – dass es Missverständnisse geben wird und auch unterschiedliche Interpretationen. Eine Beziehungsöffnung würde ich sowieso nur Paaren empfehlen, deren Beziehung in einem guten Stadium ist und nicht, dass die Beziehung geöffnet wird, um sie zu verbessern. Das ist sicherlich keine gute Idee.

Wozu führt das? 

Naja, damit Polyamorie und offene Beziehung funktioniert, braucht es ein hohes Maß an guter, transparenter, wohlwollender Kommunikation. Und wenn in der Ausgangsbeziehung da eine Schieflage ist und die Menschen weder mit Konflikten noch mit Kritik oder mit Gefühlen umgehen können, dann führt das dazu, dass es einfach zu viele Verletzungen gibt, die nicht aufgearbeitet werden können und das Paar gerät dann in einem permanenten Krisenmodus. Und das hält ein Mensch nur eine gewisse Zeit aus.

„Wichtig ist die Auseinandersetzung damit“

In einem deiner Podcasts sagst du: Eifersucht vergeht. Was hast du damit gemeint? 

Tatsächlich gibt es so eine Art Gewöhnungseffekt. Die Zeit hilft da tatsächlich, aber nur, wenn ich einen positiven Umgang damit habe und auch weiter aktiv daran arbeite. Dann kann eine leichte Gewöhnung daran entstehen. Vor allen Dingen habe ich Eifersucht als etwas Empörendes kennengelernt. Die Gesellschaft erwartet dann, dass man etwas tut, am besten den anderen verlässt, in jedem Fall verbal steinigt. Das ist ganz schrecklich. Wenn ich dieses gesellschaftliche Stigma wegnehme und mal hingucke, was ich denn wirklich fühle? Bin ich in Wirklichkeit eifersüchtig oder bin ich nicht eher neidisch, oder habe ich vielleicht Angst, diesen Menschen zu verlieren? Dann kann die klassische Eifersucht, die daraus resultiert, dass ich Angst habe, etwas zu verlieren, von dem ich glaube, dass es mir gehört, dann schon leiser und kleiner werden. Aber wichtig ist wirklich die Auseinandersetzung damit. 

Es geht nicht von alleine weg, höre ich da raus …

Nein. Viele denken, dass Polyamorie oder offene Beziehungen nicht funktionieren, sobald es Eifersucht gibt. Ich glaube, dass es in jeder Beziehung irgendwann Eifersucht geben kann. Also nur, weil ich sie für eine Weile überwunden habe, heißt das nicht, dass sie nie wieder aufflammt. Und Eifersucht ist auch vollkommen okay. Es ist viel eher die Frage, wie ich damit umgehe. 

„Viele Menschen merken zwar, dass sie eine Grenze haben, trauen sich aber nicht, diese auszusprechen“

Wie wichtig sind Grenzen, wenn man die Beziehung öffnet? 

Megawichtig. Das ist das absolute Kernelement. Dabei ist es wichtig, klar zu haben, was ich eigentlich für mich als Grenze definiere. Ich arbeite ganz gerne mit dem Ampelsystem. Grün ist: Was auch immer du tust, es ist mir egal oder freut mich. Es macht auf jeden Fall keine negativen Gefühle und strengt mich nicht an. Gelb ist: Kann ich tolerieren. Ich finde es nicht so geil, ist aber okay. Es kostet mich ein bisschen Kraft. Und rot ist: Wenn du das machst, habe ich das Gefühl, du zertrampelst mein Herz. Das kann ich keine Minute aushalten und ich würde mich am liebsten trennen. Wir schauen auf die Grenzen, die im Übergang zwischen gelb und rot liegen. Da sollte man in sich hinein hören, an welchen Stellen man vielleicht arbeiten könnte und an welchen ich sage „Nee, das geht für mich gerade gar nicht“. Das herauszufinden ist erst mal wichtig und es dann auch zu kommunizieren. Denn viele Menschen merken zwar, dass sie eine Grenze haben, trauen sich aber nicht, diese auszusprechen, aus Angst, den anderen zu verlieren. Sich einzugestehen, dass da ein Bereich ist, der so tief verankert ist, dass er sich nicht verschieben lässt, ist der erste Schritt. Und, wenn man das Gefühl hat „Wenn ich das mehr als dreimal erlebe, werde ich mich emotional von dir verabschieden“, diese Grenzen zu kommunizieren, ist einfach wahnsinnig wichtig. 

„Manchmal latscht jemand über eine Grenze, weil er sie nicht verstanden hat“ 

Ich kann mir vorstellen, dass es Grenzen gibt, die ich ganz schlecht vorhersehen kann. Wie kann man damit umgehen?

Eine Fehlertoleranz haben. Manchmal ist es so, dass ich erst zwei Wochen später feststelle „Oh Mann, da bin ich total über meine Grenzen gegangen. Das habe ich überhaupt nicht gemerkt.“ Es ist wichtig, diese Themen so früh wie möglich offen zu kommunizieren, damit die Person auch nachvollziehen kann, dass es erst verspätet bemerkt wurde und bei ihr kein Gefühl von „dauernd änderst du deine Meinung“ entsteht. Im Gegenzug muss die Person, deren Grenze überschritten wurde, sich auch bewusst machen, dass diese Grenze vielleicht nicht so klar kommuniziert wurde. Damit will ich nicht sagen, dass die Person, deren Grenze übertreten wurde, die Schuldige ist. Von Schuld und Nichtschuld spreche ich in Konflikten sowieso nie, da es meiner Meinung nach keine schuldige Person gibt. Aber es tragen alle ihren Teil dazu bei. Manchmal latscht jemand über eine Grenze, weil er sie nicht verstanden hat. Ich hatte letztens folgenden Fall: Eine Person hat dreimal gesagt, dass der andere ihre Grenze überschritten habe. Sie sei davon ausgegangen, dass die Absprache damit hinfällig sei. Und die andere Person hat erwidert, dass sie das zwar bemerkt habe, doch, da sie dazu keine neue Absprache getroffen hätten, habe sie einfach so weiter gemacht wie bisher. Sie habe sich die Freiheit genommen, nicht nachzufragen, weil es für sie einfach bequemer war. Dann ist es gut, nicht in große Empörung zu verfallen, sondern die menschlichen Wünsche dahinter zu sehen und mit einem Wohlwollen daraufzuschauen. Die andere Person hat einfach auch eine eigene Agenda, die für mich nicht unbedingt genauso schön sein muss.

„Selbstfürsorge ist wirklich der Gamechanger“

Man kann die Grenzen also auch neu setzen. 

Ja, total. Also Absprachen und Grenzen, Wünsche und Gefühle verändern sich eigentlich tagesaktuell. Wenn eine:r eifersüchtig ist und man hat gemeinsam Regelungen gefunden, damit er:sie das gut aushalten kann, kommt vielleicht trotzdem ein Tag, an dem es ihm:ihr schwerfällt. Aber das heißt nicht „Jetzt darfst du nicht zu deinem Date“, sondern, dass er:sie vielleicht Extra-Care braucht. Also kreativ werden: Schreib’ mir einen Brief, mach’ das Date nicht so lang. Eine Beziehung kann nur dann gut sein – egal in welchem Setting – wenn ich eine gute Selbstfürsorge und ein gutes Netzwerk habe, sodass ich, wenn in der Kernbeziehung irgendwas blöd läuft, einfach Leute habe, mit denen ich in die Ko-Regulation gehen kann. Selbstfürsorge ist wirklich, wirklich der Gamechanger in diesem Spiel. 

Wenn vor allem ein Partner die Beziehung öffnen möchte und sich dann in die Erfahrung stürzt, wie kann der andere sicherstellen, dass die eigenen Bedürfnisse nicht zu kurz kommen? 

Es ist meistens so, dass wenn plötzlich eine neue erfüllte Sexualität mit anderen Menschen entsteht, dann die Lust auf die eigene Partnerperson oft von alleine größer wird. Sodass die Person, die plötzlich mehr Lust verspürt, eigentlich gar keine Not hat, weil sich die sogenannte New-Relationship-Energy oder das Verliebtsein automatisch auf alle beteiligten Menschen auswirkt. Aber letztendlich geht es nur, indem die Person darüber spricht, indem sie sagt „Hey, ich merke, ich habe viel mehr Lust auf dich, was können wir da machen?“

Interview: Nina Hensch

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