Es ist dieser flüchtige Moment, der alles verändert. Die Mimik verhärtet sich, die Körperspannung nimmt zu. Dann geht alles sehr schnell. Aufgesetzte Helme machen in Windeseile aus Beamten anonyme Robocops, die angriffslustig ihre Schilde heben. So entspannt wie eben kommen wir nicht mehr zusammen. Überraschender als der Polizeikessel ist jedoch die Reaktion der Veranstalter der Autonomen Maidemo, die sich gerade erst am AZ in Bewegung gesetzt hat. „Es folgt eine Durchsage an die Polizeikräfte: Da bei uns der Eindruck entstanden ist, dass der juristische Teil ihrer Ausbildung erhebliche Lücken aufweist, folgen einige Hinweise, um ihnen die Vermeidung von rechtswidrigem Handeln zu ermöglichen.“ Die Frauenstimme aus dem Lautsprecherwagen ist sachlich, fast schon diabolisch freundlich. Von dem polizeilichen Eins-zu-Eins-Betreuungsschlüssel der 500 Demonstranten an diesem Tag der Arbeit können Individualpädagogen nur träumen. „Die Einsatzleitung will uns nicht in die Innenstadt ziehen lassen, versucht, uns von ARGE und Banken fern zu halten. Eine eigenwillige Interpretation von Grundrechten, von Demonstrations- und Meinungsfreiheit.“ Bea sieht lustig aus mit ihrer bunten Perücke, so gar nicht nach Schwarzem Block. Sie ist an der Organisation des diesjährigen Klassentreffens der radikalen Linke in Wuppertal beteiligt, das es mittlerweile seit 1986 gibt. Damals biegen Antiautoritäre, Autonome und Anarchos aus dem DGB-Umzug nicht nur geographisch links ab. „Wir melden die Maidemo seitdem mit Plakaten und Flyern in der Öffentlichkeit an, das muss reichen.“ Über sich will Bea nicht sprechen, „das tut nix zur Sache, es geht nicht um mich.“ Die juristische Unterweisung der Polizei geht weiter: „Auch eine nicht angemeldete Versammlung unter- liegt dem Schutz des Versammlungsrechts. Die Nichtanmeldung rechtfertigt nach dem Bundesverfassungsgericht keinerlei Maßnahmen gegen die Versammlung.“ Während auf den Kreuzberger Maifestspielen Hooligans mit und ohne Migrationhintergrund ritualisiert Krieg in den Städten proben, erschließt sich mir nicht, warum wir hier kollektiv unserer Freiheit beraubt werden.
HUNDE OHNE MAULKORB SPRINGEN DEMONSTRANTEN AN, DIE SITUATION ESKALIERT
Die neue Prodigy spuckt enorme Basslinien aus den überforderten Lautsprechern, der Schaltzentrale der Gegenmacht. Dem wütenden Elektropunk folgt auf der Kreuzung Gathe und Karlsstraße der musikalische Hüftschwung der kolumbianischen Pop-Diva Shakira. „Hips don’t lie“, na, wenn das mal keine zermürbenden Sexismus-Debatten auf dem nächsten Plenum gibt. Eine Hippiefrau malt mit Kreide bunte Herzchen auf den Asphalt, vor die Füße der verdutzten Polizisten. „Jeder Person muss es zu jedem Zeitpunkt möglich sein, die Demonstration zu verlassen oder zu betreten. Sollte dies durch Polizeiketten verhindert werden, handeln die daran teilnehmenden Polizeibeamten rechtswidrig und machen sich wegen Nötigung und unter Umständen wegen Freiheitsberaubung strafbar.“ Noch immer werden wir ohne Begründung festgehalten, niemand darf raus aus dem Kessel, niemand darf hinein. Auch Kommunikation scheint nicht auf dem Lehrplan der Polizeiakademie zu stehen, die befragten Beamten schweigen oder verweisen auf die Einsatzleitung, ohne deren Aufenthaltsort preisgeben zu wollen. Dafür filmen gleich drei Kameras präventiv, die Polizeiketten sind ohne Not auf Körperkontakt angelegt. War der Kessel in praller Mittagssonne anfangs noch gut für unseren Teint, löst die Zwangsumarmung der behelmten Staatsmacht mehr und mehr schlechte Laune aus. Punks, die dringend eine Dusche benötigen, ver- treiben sich die Zeit mit Flaschenbier, postpubertäre Antifas mit Sonnen- brille und Kapuze erinnern die Ordnungshüter mit Schmährufen an eine angeblich verlorene Schlacht beim G8-Gipfel in Heiligendamm. Bea ist verschwunden. Der türkische Betreiber des „Cafe International“ macht derweil den Umsatz seines Lebens. Als geschäftstüchtiger Internationalist verkauft er an alle, ohne Ansehen von Herkunft, gleichermaßen überteuertes Wasser. Nach einer gefühlten Ewigkeit beugt sich die Demonstration dem Druck der Einsatzleitung und bewegt sich nun doch in Richtung Ölberg. Plötzlich kläffen Hunde, ohne Maulkorb springen sie Demonstranten an. Die Situation eskaliert. Gedrängel, Gerangel, Geschubse. Polizisten treten und schlagen. Wo sind wir hier? Das Adrenalin pumpt bis unter meine Schädeldecke. Ich bin zornig, weil ohnmächtig; nicht bereit, meine Grundrechte von der Exekutive auslegen zu lassen, von Sheriffs und Polizeipräsidenten. „Verlassen Sie die Kette, wenn von Ihren Kolleginnen und Kollegen Straftaten wie Körperverletzungen begangen werden. Durch Ihre Anwesenheit ermöglichen Sie die Fortsetzung von Körperverletzungen, da uniformierte Gewalttäter sich nur im Schutz der Masse und der Anonymität sicher fühlen.“ Auf dem Straßenfest am Schusterplatz treffe ich Bea wieder. Sie hat hektische Flecken im Gesicht, ihre Pupillen sind unruhig. „Die Bullen haben gleich zu Anfang die Transparente kassiert. Das ist Diebstahl an politischen Inhalten.“ Warum nimmt die Polizeileitung einen derart hohen Kredit an demokratischer Glaubwürdigkeit auf? Arroganz der Macht, Überforderung, gar ein kalkulierter Rechtsbruch? „Wir sind Zeugen einer Machtprobe geworden“, Bea sieht eine politische Strategie hinter dem Einsatz. „Sie wollen Menschen demütigen und abschrecken, eine grundsätzliche Kritik zu äußern. Doch gleichzeitig politisieren sie und stiften Wut.“
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