Das Lesen an sich hat ja schon was Wölfisches. Dieses einsame Streifen durch das Buchstabendickicht. Sämtliche Sinne angespannt. Witternd. Die Fährte aufnehmend. Auf der Pirsch nach dem entscheidenden Wendepunkt. Und doch, muss man sich mit Leselampe unter sternenilluminiertem Himmelszelt eingestehen, folgt man nur den Spuren eines unfassbaren Alphatiers, sprich: dem Autor als wahrlich einsamem Wolf auf seinem mäandernden Zug durch die Wildnis der Fantasy. John Irving ist geradezu ein Paradebeispiel für einen derartigen Leitwolf, dessen Spürsinn für skurril-tragikomische Geschichten ein riesiges Rudel ergebener Leser folgt, ohne den Autor in seiner Wesenhaftigkeit je erfassen zu können. Bären, Ringkämpfe, die Kindheit in einer Ersatzfamilie, die sexuelle Erweckung, das puritanische Schreckgespenst der Abtreibung oder nicht zuletzt der Akt des Schreibens, immer wieder verquirlt er seine persönlichen Ingredienzien zu einer neuen fiktiven Groteske, welche die autobiografischen Spuren verwischt. Umso erstaunlicher ist es, wie nah der Bestsellerautor in Gestalt des heranwachsenden und später überaus erfolgreichen Schriftstellers Daniel den Leser in „Letzte Nacht in Twisted River“ (Diogenes, 731s, € 26,90) nun an sich heran lässt. Dabei entpuppt sich die (wieder einmal) von einem selbstverschuldeten Unglück ausgelöste, lebenslange Flucht des Kochs Dominic Baciagalupo (der eigentlich Baciodalupo, Wolfskuss, hätte heißen sollen) durch halb Amerika als Hommage an Irvings alleinerziehenden Vater respektive die väterliche Fürsorge und Angst vor vermeidbaren Unfällen schlechthin. Nichtsdestotrotz ist es nur allzu natürlich, dass auf dem gewundenen Trail durchs Leben einige der heranwachsenden Jungwölfe aus dem Rudel ausscheren und mit geballter Energie die Literaturlandschaft unsicher machen. Regelrechten Kultcharakter hat sich dabei Kurt Lanthaler beziehungsweise sein lebensmüder Anarcho Tschonnie Tschenett erworben, der in „Grobes Foul“ (Haymon, 265s, € 9,95) „den Anfechtungen der Welt entrückt“ dem Stürmerstar des AS Rom aus der Patsche hilft und während der ,Ermittlungen‘ selbst zur Zielscheibe (nicht nur von Bierkrügen) wird. Doch: Richtig garstig wird es erst am äußersten Rand des Krimi-Genres. Hier tobt der einsame Wolf Ken Bruen, dessen selbstzerstörerischem Privatdetektiv Tod und Teufel auf den Fersen sind: „Jack Taylor liegt falsch“ (Atrium, 240s, € 16) muss einfach falsch liegen bei seinem Alkohol- und Drogenkonsum. In geradezu bukowskiesker (also durchaus empfindsamer, nur eben verschrobener) Manier zieht dieser unverwüstliche Haudegen bei dem halbherzigen Versuch, eine Mordserie unter den Tinkers, den irischen Landfahrern, aufzuklären, eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Rohes Fleisch. Köstlich blutig. Ein gefundenes Fressen. Da will sich auch ein sprachgewaltiger Meister der amerikanischen Gegenwartsliteratur wie Denis Johnson nicht hinten anstellen. In bester Hard-Boiled- Tradition entfesselt er mit „Keine Bewegung!“ (rowohlt, 205s, € 17,95) einen Pulp-Thriller, in dem sich unweigerlich und immer wieder die Wege ungezähmter Alpha-Männchen und -Weibchen kreuzen, die beim Sex wie im Blutrausch allein ihren Instinkten folgen. Cormac McCarthys „No Country For Old Men“ reduced to the max. Entsprechend muss Johnsons Pendant Jimmy Luntz zu McCarthys Tunichtgut Llewelyn Moss alsbald feststellen: „Du streifst diese Leute, verstehst du? Kommst bloß kurz mit ihnen in Berührung, und da ist was Elektrisches, da geht Strom auf dich über, du fühlst dich, als hättest du Eier in der Hose, aber – diese Leute sind knallhart.“ Faszinierender, aber blutrünstiger als irgendwelche Irvingschen Tanzbären auf nächtlicher Futtersuche, denen man zur Not mit der Bratpfanne beikommen kann. Und so schließt diese Kolumne nicht von ungefähr mit Dominic Bagciagalupos Mahnung an seinen Sohn: „Halt die Stellung, Daniel – aber bleib am Leben.“
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