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Leidenschaftliche Streiterin für einen liberalen Islam: Seyran Ateş (mit Dekan Ahmet Toprak).
Foto: Dino Kosjak

Spirituell und sexuell selbstbestimmt

10. Dezember 2018

Moschee-Gründerin Seyran Ateş spricht in Dortmund über einen liberalen Islam – Spezial 12/18

Begriffe dürften nicht zu Denkblockaden verkommen, erklärt Seyran Ateş zu Beginn ihres Vortrags. Die folgenden zwei Stunden werden mehrfach Anlass geben, sich die Bedeutung dieses unaufgeregten Appells bewusst zu machen. Denkblockaden fürchte sie, wenn beispielsweise ihr selbst die Rolle einer Islamkritikerin zugeschrieben werde oder die Diskussion über den Islam hierzulande kaum über die Frage hinauskomme, ob der Islam zu Deutschland gehöre – denn als Islamkritikerin sehe sie sich nicht, und jene Frage treffe nicht die eigentlichen Probleme.

Ateş spricht sich also aus für einen grundsätzlichen Zweifel am fertigen Wort. Keinen Zweifel hingegen lässt sie an ihren Überzeugungen und Zielen. Darüber spricht sie vor einem gut gefüllten, keineswegs ausgelasteten Hörsaal in der Fachhochschule Dortmund in der Reihe „Gehört der Islam zu Deutschland?“ Selbstverständlich ist es kein Widerspruch, wenn sie in der so benannten Reihe spricht, denn auch Zweifler kommen um fertige Worte nicht herum. Der Titel ihres Vortrags: „Der Islam lässt sich mit der Moderne vereinbaren!“ – mit Ausrufe-, nicht Fragezeichen. Ihre Rede wolle sie kurz halten, damit mehr Zeit für Diskussion bleibe; sie wird sich dran halten.

Sie räumt ein, dass nicht allen Muslimen an einer modernen Auslegung des Islams gelegen ist, wirbt aber dafür, nicht jene Muslime zu übersehen, die ebensolche Bemühungen begrüßen, die religiöse Zwänge ablehnen und denen es selbstverständlich abwegig erscheint, beispielsweise einen Handschlag zwischen Mann und Frau „als Geschlechtsverkehr“ zu interpretieren. Entscheidend sei die Trennung zwischen politischer und religiöser Macht; werde sie anerkannt, dann gebe es keinen Widerstreit zwischen politischer Verfassung und Religion. Nebenher merkt Ateş an, dass so manche Religion nicht verfassungskonform sei, wenn sie buchstabengetreu ausgelegt werde – woraufhin sich im Publikum heitere Zustimmung regt. Das Problem betreffe also nicht nur den Islam. Trotzdem hält sie unmissverständlich fest: „Demokratie ist kein Ort für die Scharia.“

Traurig, dass Seyran Ateş sich mit Personenschützern in der Öffentlichkeit bewegen muss, drastisch sind seit Jahrzehnten die Anfeindungen, die sie ob ihres Einsatzes für einen liberalen Islam erfährt. Was ihre Positionen, denen viele Muslime und Nichtmuslime ganz selbstverständlich zustimmen, manchen Gläubigen abverlangen, das zeigt sich erst nach und nach.

Seyran Ateş wirbt um Verständnis für religiöse Vielfalt, Foto: Dino Kosjak

Ateş sagt, sie tue sich schwer damit, sich selbst einer konkreten Ausrichtung des Islams zuzuordnen – etwa der sunnitischen, schiitischen oder alevitischen, bekennt sich stattdessen zur Spiritualität, zur geistigen Dimension des Glaubens, die Antworten auf Fragen des Lebens gebe, die ein religiöser Mensch anders nicht finden könne. Dieses Verständnis grenzt sie ab von einem Regelwerk, das äußere Verhaltensweisen festschreibt. Sie geht noch weiter, indem sie daran eine Verantwortung für die eigene Religion knüpft, die Wissen und Lernen voraussetzt, sprich: Gläubige sollten sich bewusst mit ihrer Religion auseinandersetzen und mit dem Verhältnis von religiösen und weltlichen Fragen. Wie sonst sollten sie dem gerecht werden können, was Ateş als Kern des Islams benennt: Barmherzigkeit? Schließlich ist die Welt, in der sich das Ideal der Barmherzigkeit behaupten soll, ständig im Wandel.

Mit dem Stichwort der Bildung zeichnen sich zudem politische Empfehlungen ab. Erschüttert zeigt sich Ateş darüber, dass Jahrzehnte nach der Ankunft türkischer Gastarbeiter in Deutschland immer noch keine politische Idee helfe, dass sich die hiesigen Muslime und Nichtmuslime einander annähern. Naheliegend sei ein Religionsunterricht, der nicht die Erziehung zum Glauben in den Mittelpunkt stelle, sondern das Wissen über die Religionen der Welt, das Recht an andere Götter zu glauben und nicht zuletzt das „absolut gleichberechtigte“ Recht, nicht gläubig zu sein. Warum dergleichen immer noch auf sich warten lasse, dafür fehle ihr jegliches Verständnis, seien es doch Politiker, die nicht müde würden zu betonen, dass Bildung „das Wichtigste“ sei.

Dann kommt sie auf die sexuelle Selbstbestimmung zu sprechen; ein Anliegen, zu dem sie bereits vor rund zehn Jahren die Streitschrift „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ veröffentlicht hat. Unabdingbar sei das Wissen darüber, dass Menschen ein Recht auf außerehelichen Sex haben – von dem sie selbstverständlich nicht Gebrauch machen müssen, das frei von Zwängen sein muss und über dessen verantwortungsvollen Gebrauch aufzuklären sei. Sie unterstreicht diese Forderung mit ihren Erfahrungen als Anwältin, die auch in Scheidungsfragen berät. Fortlaufend treffe sie auf junge Muslime, die aus Zwang geheiratet haben, nämlich nur darum, weil sie keinen anderen Weg wussten, religiös legitimiert Sex zu haben.

Solche Bildungsarbeit bedeute eben: Arbeit, hält Ateş fest. Das unterscheide sie von Pauschalisierungen wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“. Die Anspielung auf Horst Seehofer nutzt sie auch, um ihr Erstaunen darüber auszudrücken, dass auf der jüngsten Deutschen Islamkonferenz ausgerechnet unter dem Vorsitz des Innenministers neben den traditionellen Islam-Verbänden vermehrt einzelne Vertreter und Vertreterinnen eines liberalen Islams zu Wort kommen. Das sollte nicht als plumpe Gegenrede gegen die traditionellen Verbände verstanden werden. So wie ein religiöser Regelkanon Ateş zuwider ist, so legt sie auf die Vielfalt des Islams größten Wert. Es dürfe gerade nicht darum gehen, die vielen Gesichter des Islams „von Marokko bis Indonesien“ zu vereinheitlichen, und sie betont, dass ein traditioneller Islam nicht gleichzusetzen ist mit islamistischen oder extremistischen Tendenzen. Den traditionellen Islam-Verbänden erkennt sie ausdrücklich eine Rolle im religiösen Dialog zu. Sie zeigt sich aber auch erfreut, dass das öffentliche Bild des Islams zunehmend auch von liberalen Stimmen geprägt wird.

Im Gespräch mit dem Moderator und Dekan der Erziehungswissenschaften Ahmet Toprak kommt sie dennoch auf ihr Unbehagen zu sprechen, eine traditionelle Moschee zu besuchen: Sie fühle sich nicht willkommen, wenn Männer und Frauen getrennt werden und es Frauen versagt bleibt, die Predigt zu sprechen. Eine entgegengesetzte Praxis pflegt die 2017 in Berlin eröffnete und von Ateş mitgegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in der Ateş als Imamin auch predigt. Sie betont die Notwendigkeit, die Ausbildung der Imame in Deutschland unabhängig von der Türkei zu organisieren, was freilich auch bedeute, die Zusammenarbeit mit dem Islamverband Ditib zu hinterfragen, einem „Ableger der türkischen Religionsbehörde“. Wie sonst, fragt sie, könne es gewährleistet werden, dass die Imame in Deutschland die hiesige Sprache und Kultur sowie die Lebenswelt der Gläubigen verstünden und einen „aufgeklärten Islam“ verträten. Schließlich spricht sie sich für die Gründung eines Islamischen Rates in Deutschland aus, dessen Aufgabe es sein müsse, die Vielfalt des Islams abzubilden. Topraks Frage, wie es um einen „Euro-Islam“ bestellt sei, kann Ateş erwartungsgemäß kurz verhandeln: Von einem europäischen Islam könne die Rede sein, weil es nunmal Menschen in Europa sind, die ihn leben. Ein einheitlicher Islam aber, institutionalisiert womöglich nach Kirchen-Vorbild, ist für sie so abwegig wie es für sie selbstverständlich ist, dass die Spielarten des Islams in Europa mit europäischem Recht und Gesetz vereinbar sein müssen – und dass sich der Islam dafür wandeln muss.

Im Gespräch mit dem Publikum, Foto: Dino Kosjak

Zwei Wortmeldungen in der anschließenden Publikumsdiskussion bringen Herausforderungen auf den Punkt, vor denen diejenigen stehen, die für einen liberalen Islam eintreten. Ein junger Mann rechnete vor, dass die nur rund 9000 facebook-Abonnenten von Ateş nahelegten, dass es letztlich keinen Bedarf an einem liberalen Islam in Deutschland gebe. Zudem bezweifelte er, dass es gelingen könne, glaubwürdig zu bleiben, wenn das Engagement für einen liberalen Islam doch mit beträchtlichen Einkünften verbunden sei, in Form von Honoraren für Publikationen, Vorträge und Preise. Ateş, seit kurzem Trägerin des Marion-Dönhoff-Preises, wies daraufhin, dass auch dieser Gewinn der Moschee zugutekommt und keineswegs ihrer persönlichen Bereicherung dient. Außerdem stimme es sie bedenklich, wenn Menschen und ihre Haltung danach bemessen würden, wieviele facebook-Fans sie haben. Reichlicher Applaus gibt ihr Recht.

An der Mühsamkeit der Etablierung eines liberalen Islams lässt Ateş zudem keine Zweifel. Sie erinnert daran, dass die Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland erst seit rund zwanzig Jahren strafbar ist; eine Errungenschaft, die uns längst selbstverständlich scheint und die gelingen konnte nur, weil allmählich parteiübergreifende Überzeugungsarbeit zu wirken begann und Frauen auf Bündnisse hinarbeiteten. Hier wäre Gelegenheit gewesen, einen Blick zu werfen auf die seit Generationen währenden Bemühungen um einen reformierten Islam oder auf Beispiele für einen liberalen Islam in anderen Ländern; losgelöst davon wirken viele Argumente mitunter geschichtslos. Aber weder die historische Dimension noch die Praxis in anderen Ländern steht an diesem Abend im Fokus.

Eine junge Muslimin gesteht Ateş mit spöttischem Unterton zu, etwas gegründet zu haben, was sie „Moschee“ nenne, besteht aber darauf, dass die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee nicht islamisch sei, genausowenig wie Sex vor der Ehe. Sie schließt ihre Ausführung mit dem Hinweis, dass sie Ateş keineswegs beleidigen wolle. „Sie haben mich die ganze Zeit beleidigt“, antwortet Ateş, während Unterstützer der jungen Muslimin applaudieren. Auf eine weitere Entgegnung auf ihre Kritikerin verzichtet Ateş.

Vielleicht musste dieses Gespräch hier enden, sollten nicht bloß die bereits gehörten Argumente wiederholt werden. Immerhin, man hat einander zugehört und ist gewiss am Kern der Probleme angelangt – abseits von allzu bequemen Pauschalisierungen. Das Gespräch wird weitergehen.

Dino Kosjak

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