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Die Mitwirkenden des Films finden sich nach der Aufführung auf der Bühne zum Gespräch ein. In der zweiten Reihe spielt die erste Geige.
Foto: Philipp Unger

Sehnsucht – eine Endstation?

11. Mai 2012

Lisa Lyskavas Dokumentarfilm „Standort Sehnsucht“ im Dortmunder Kino „Sweet Sixteen“ – Foyer 05/12

Am Sonntag war das ehemalige Straßenbahnlager, das „Depot“, mal wieder ein Betriebshof kultureller Zusammenkunft. Dabei stand besonders das Depot-interne Programmkino im Rampenlicht. Im „Sweet Sixteen“ präsentierte die Künstlerin Lisa Lyskava ihren Dokumentarfilm „Standort Sehnsucht“ vor einem durchaus kinofüllenden, heterogenen Publikum. Die Menschen, um die es im Film geht, sind auf unterschiedlichste Weise geprägt und angetrieben – manch einer von ganz individueller Sehnsucht. 2010, als das Ruhrgebiet gleichzeitig als Kulturhauptstadt im Fokus der Aufmerksamkeit stand, hat Lyskava Menschen verschiedenster Herkunft vor die Digitalkamera geholt, die sich, ganz nah, in ihren vier Wänden oder an ihrem Arbeitsplatz präsentieren. In einer Region, die in den letzten Jahrzehnten den Wandel sowohl demographisch als auch (industrie-)kulturell hautnah miterlebte, verstecken sich sicher einige spannende Biographien. Dabei war der Ausgangspunkt eine bereits 30 Jahre alte poetische Selbstreflektion Lyskavas, ein Gedicht über die tückische Sehnsucht.

Mit diesen Versen in der Hand mag manch einer der gefilmten Gesprächspartner zunächst auf dem mentalen Wunschzettel nach nicht erreichten und vielleicht noch angestrebten Lebenszielen nachschlagen. Bei einigen, wie der sympathischen Inhaberin von „Dette’s Nähstübchen“, mag das eine Fahrt im Cabriolet sein; bei anderen wiederum sind die Sehnsüchte von viel existenziellerer Art, wie beim jugendlichen Asylbewerber, der vor dem gewalttätigen Vater und den Umständen im Irak floh. Da ist die Bochumer Barfrau, für die Sehnsucht auch eine jugendliche Phase der Selbstfindung war; im Kontrast dazu der über 80jährige ehemalige Musiklehrer, der einen späten und etwas unkonventionellen zweiten Frühling erlebt. Da ist der „Self-Made Man“, der sich als Einwanderer-Sohn im Finanzwesen gemacht hat. Auf ca. drei Minuten pro Person wurden die langen Gespräche heruntergebrochen, dennoch bekommt man ein Bild vom Charakter und den Sehnsüchten der Menschen. Dabei hält sich Lyskavas Schneideschere sehr zurück, verwebt die Interviews nicht miteinander, sondern behandelt jede Person strikt episodisch. Das sind bei 33 Menschen allerdings eine Menge Informationen, die vielleicht rückblickend etwas untergehen, wobei einige Schicksale mehr, andere hingegen weniger im Gedächtnis bleiben.

Künstlerin Lisa Lyskava bei der Premiere ihres Dokumentarfilms – Lob vom zahlreichen Publikum, Foto: Philipp Unger

Viele dieser Menschen sind mit Lisa Lyskava befreundet, die zwar aus dem Münsterland kommt, aber seit Jahren im Ruhrgebiet verwurzelt ist. In einem Zeitalter, wo ein Großteil der Bevölkerung (oder zumindest ein Großteil der jungen, web-affinen Bevölkerung) täglich von Statusmeldungen auf Facebook, Twitter und Co. Gebrauch macht, ist ein Statusbericht von Träumen und Wünschen im Eins-zu-eins-Gespräch eher selten geworden. Die Doku wagt einen riskanten Ausbruch aus der klassischen Fernsehdoku, gerade weilsie nur aus „talking heads“, aus monologisierenden Interviewpartnern besteht, wobei das interviewende Gegenüber stumm ist und lediglich mit dem Sehnsuchts-Gedicht den Leitfaden an die Hand gibt. Der Film gibt uns keine Expertenmeinung zu einem Thema, er macht in seinen über 105 Minuten schlichtweg jeden dort präsentierten Menschen zum Experten seiner eigenen Geschichte. Des Öfteren lacht man mit ihnen über lakonisch kommentierte Selbsteinschätzungen oder Sprüche, wie z. B.: „Als Friseur versucht man auch (…) ein bisschen die Welt zu retten“.

Nach der Filmvorführung bot sich der Zuschauerschaft die Chance, den gerade noch auf der Leinwand gesehenen Menschen einmal selbst auf den Zahn zu fühlen, oder einfach einem Gespräch über das Gespräch zu lauschen. Moderierend war neben der Regisseurin selbst dabei Thomas Hengstenberg, Leiter des Kulturreferats Unna. Die Stimmen der Zuschauer waren voller Lob, zum einen für die Macherin, vor allem aber auch über die Lebenseinstellung und Motivation der Mitwirkenden.

Dabei blieben einige vielleicht ganz erfragenswerte Details in der Diskussion offen, einem etwas zögerlichen Publikum geschuldet. Dennoch schaffte es Lyskava, unterschiedliche und sozial wie kulturell geprägte Sehnsuchtsbilder mit schlichter Visualisierung teils bewegend zu illustrieren. Sehnsucht ist eben oft ein Antrieb, manchmal aber auch mit potenzieller Sehn-„Sucht“-Gefahr.

Die Regisseurin Lisa Lyskava lebt in Bochum und New York und ist ebenfalls in der Malerei, Fotografie, fürs Theater und musikalisch tätig.

Daniel Brüning

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