Innerhalb der vielfach verschlungenen, verzweigten und verästelten Geschichte elektronischer Popmusik gibt es eine Langzeitbeziehung, die sich als überaus stabil erwiesen hat: die zwischen Akademie und Club. Traditionell verläuft die Arbeitsteilung in dieser Beziehung folgendermaßen. An den Hochschulen lernt man Technologie, Kompositionstechniken und die genaue Beschaffenheit der Frequenzgänge. Im Club lernt man, wie man das Ganze so einsetzt, dass die Frequenzen auch da ankommen, wo sie hingehören – am Körper. Wer schon einmal bei einer Laptop-Performance in einem Konzertsaal saß und sich gefragt hat, warum es trotz waghalsiger Komposition nicht so richtig kickt, kennt das vielleicht.
Aber selbstverständlich kann man den Weg auch anders gehen – so wie Matthew Herbert. Der britische Elektronikproduzent sampelte um die Jahrtausendwende Körpersounds und Küchenutensilien und produzierte auf diese Weise zwei fantastische House-Alben. Ihr Geheimnis war, dass Herbert das Genre „House“ niemals verließ, während sich seine Soundpalette weit von den Industriestandards entfernte. In den letzten Jahren verließ er dann die Clubs ein wenig und begriff sich als Experimentaldirigent, als der er sein Publikum als Samplequelle in Äpfel beißen ließ und die Verwertungskette eines Schweins vertonte. Herbert ist nur einer der Acts, die bei der dritten Auflage des „C3 Festivals“ in Essen auftreten. „C3“, das steht für „Club Contemporary Classical“, und das ist selbstverständlich ein wenig Etikettenschwindel. Denn letztlich geht es den Künstlern des Festivals weniger um den Umgang mit „klassischer Musik“ an sich, sondern um eine Fortsetzung eines kleinen Abschnitts der musikalischen Moderne, die – grob gesprochen – eher in der Tradition von Debussy als in der von Schönberg und Stravinsky steht. Es geht also in erster Linie um Klang. Aber da könnten die Ansätze nicht unterschiedlicher sein. Während sich Matthew Herbert einer Reaktualisierung von Musique Concrète verschreibt, experimentiert der Komponist Stefan Goldmann mit den Formen von House und Techno, die er einer akademischen Untersuchung unterzieht. Der mexikanische Produzent Murcof ist dagegen den umgekehrten Weg gegangen. Er hat als Komponist von elektro-akustischen Werken begonnen und produziert heute verdichtete Electronic Listening-Musik, die ihre Komplexität hinter einem manchmal ins Liebliche gehenden Klangbild verbirgt.
Wobei es nicht unbedingt immer ein Festival braucht, um den Grenzgang zwischen elektronischem Pop und experimenteller Musik zu betreten. In Köln veranstaltet der Mak e.V. seit einigen Jahren die Reihe M, die sich dem breiten Spektrum zwischen akademischer Komposition und Clubkultur widmet. Im November tritt dort der Berliner Produzent Jan Jelinek, dessen Mikrosampling-Expeditionen ihn schon zu Jazz und Krautrock geführt haben, mit dem Perkussionisten Masayoshi Fujita auf. Gemeinsam produzieren sie eine oberflächenspannungsreiche Mischung aus zurückhaltenden Elektronikfragmenten und Schlagwerksprengseln, die vor allem beweist, dass der Unterschied zwischen akademischer Analyse und Soundspaß ein eingebildeter ist.
C3 Festival –Club Contemporary Classical | 8.-10.11. I Zeche Zollverein, Essen | www.c3festival.com
Reihe M: Masayoshi Fujita & Jan Jelinek und EVOL | 8.11. 20.30 Uhr I Zimmermann’s Köln | www.reihe-m.de
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