Wir befinden uns in sensiblen Zeiten. Wer heute raucht, wird zunehmend als Gefährdung des sozialen Friedens angesehen, und wer sich als abgehalfterter Politiker im Rausche der Nacht zu einer anzüglichen Bemerkung hinreißen lässt, muss sich mit einer handfesten Aufregung auseinandersetzen. Ob man diese Prämissen teilt oder nicht, wahrscheinlich aber gibt es Grund zur Annahme, dass sich die allgemeinen Empörungsmechanismen neu justiert haben – ihre Trigger dürften insgesamt empfindlicher geworden sein. Sollte dies tatsächlich zutreffen, lässt sich jedoch fragen, ob das eine gute oder eine schlechte Entwicklung ist.
Der Wiener Philosoph Robert Pfaller stellte 2011 in seinem Buch „Wofür es sich zu leben lohnt“ die These auf , wir Menschen würden zunehmend an die Vorstellung gewöhnt, schwache Wesen zu sein, „die durch penible Verbote geschützt werden müssten“. Pfaller sieht in Maßnahmen wie dem Rauchverbot Manifestationen einer genussfeindlichen Pseudopolitik, die von den eigentlichen Problemen (soziale Ungleichheit, Armut) ablenkt und die Menschen gegeneinander in Stellung bringt: Raucher gegen Nichtraucher, Frauen gegen Männer, Alte gegen Junge.
Viel ist in diesem Zusammenhang über den Kampfbegriff der politischen Korrektheit gestritten worden und es scheint, als wäre die Sache zu Ungunsten einer echten Diskussion ausgegangen. Das dürfte nicht zuletzt damit zu tun haben, dass sie am lautstärksten von Hetzern wie Thilo Sarrazin, Akif Pirinçci oder den Populisten der AfD geführt wurde.
Vor allem die Geschlechterfrage scheint die Gemüter anzutreiben. So gilt seit 2014 an kalifornischen Universitäten ein Gesetz, wonach Sex zwischen Studenten nur noch „mit ausdrücklicher Genehmigung“ beider Partner erfolgen darf. Abgesehen davon, dass dies eine Selbstverständlichkeit ist und alles andere eine Straftat darstellt, ist zu fragen, ob derartige Verordnungen nicht zu einem Klima gegenseitigen Misstrauens führen.
Noch etwas weiter geht die vorauseilende Angst in Harvard, wo künftig jede „romantische oder sexuelle Beziehung zwischen Professoren und Studenten“ verboten ist. Als ob wir es hier nicht mit erwachsenen Menschen zu tun hätten.
Folgt man der Diagnose, fiele wohl auch die Frauenquote in diese Kategorie. Statt den Menschen zuzutrauen, sich als Individuen selbstbewusst für ihre Belange einzusetzen, scheint es einfacher, Gesetze zu machen, an deren Ende es nur Verlierergruppen gibt: Männer, die sich ereifern, Frauen, die es auch ohne Quote geschafft haben und Frauen, die – wie es heißen wird – nur aufgrund der Quote nach oben gelangen konnten.
Echte Politik, so schreibt Pfaller, bestehe nicht darin, erwachsene Bürger durch Vorschriften wie Minderjährige zu behandeln, sondern darin, dafür zu sorgen, dass niemand schwach ist. Ansonsten sollte man sich an Montesquieu erinnern: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
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