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Rüdiger Maas
Foto: © Institut für Generationenforschung

„Kinder sind heute unglücklicher denn je“

28. März 2023

Psychologe Rüdiger Maas über Erziehung, Digitalisierung und Konsum – Teil 2: Interview

trailer: Herr Maas, die ab 2010 geborene Generation Alpha nennen Sie „Generation lebensunfähig“. Warum?

Rüdiger Maas: „Generation lebensunfähig“ ist als Spiegel der Gesellschaft und als Hilfeschrei gemeint. Viele Institutionen kamen auf uns zu und wollten wissen: Gibt es überhaupt eine Nachfolgegeneration der Gen Z? Existiert eine Generation Alpha? Wir haben über tausend Pädagog:innen befragt, was sie für Veränderungen wahrnehmen. Die Ergebnisse waren stellenweise erschreckend. Ich wollte durch dieses Buch den teilgenommenen Pädagog:innen eine Stimme geben, zudem wollte ich „wachrütteln“, deswegen auch so ein extremer Titel.

Was zeichnet glückliche Kinder aus?

Sich keine Sorgen machen und unbeschwert agieren zu dürfen. Viele Kinder dürfen das heute nicht mehr. Es geht darum, mit Hoffnung und ohne Furcht aufzuwachsen, Sicherheit zu haben, sich frei bewegen zu können. Auch mal Langeweile aushalten, mit Frustration umgehen können. Sich mit Gleichaltrigen verständigen, auf neue Kinder zugehen und Konflikte selbst lösen können.

Sich keine Sorgen machen: Viele Kinder dürfen das heute nicht mehr“

Das ist Ihrer Umfrage nach in vielen Familien nicht gegeben?

Ja. Kinder sind heute im Durchschnitt unglücklicher denn je. Wir haben immer extremere Erziehungsstile. Viele versuchen, es besser zu machen als die Vorgängergeneration. Das kann dazu führen, dass zu viel gemacht wird und den Kindern zu viel abgenommen wird. Dann gibt es immer weniger Räume, wo Kinder stolz auf sich sein oder selbst Verantwortung übernehmen können. Wenn ein Kind in die Schule gefahren wird und zu spät kommt, dann ist es nicht selbst schuld, weil es getrödelt hat, sondern die Eltern, die zu spät losgefahren sind. Dieses simple Beispiel soll zeigen, wozu das ursprünglich gut gemeinte führen kann, nämlich dazu, dass die Umgebung für alles verantwortlich gemacht wird, was nicht sofort funktioniert. Entsprechend des Konzepts der „Erlernten Hilflosigkeit“ des Psychologen Martin Seligman bedeutet das, zu lernen: Die Umgebung hat einen größeren Einfluss auf mich als ich auf die Umgebung. Zugleich gibt es Eltern, die ihre Kinder so ernst nehmen, dass diese schon im Alter von drei Jahren entscheiden sollen, wohin es in den Urlaub geht – was Kinder meist überfordert. Außerdem haben wir eine enorme Übersättigung in vielen Punkten. Kinder werden häufig mit so vielen Geschenken zugeschüttet, dass sie diese gar nicht wahrnehmen können, „be-greifen“ können, da die Auswahl zu groß ist, am Ende sich auch gar nicht mehr auf das „Wesentliche“ konzentrieren können. Eltern haben uns berichtet, dass Kinder gar nicht alle Weihnachtsgeschenke auspacken, weil es so viele sind. Oder dass Kinder heute vier oder fünf Adventskalender haben müssen, und Schultüten im Wert von 200 Euro. All diese Dinge führen dazu, dass Kinder heute so übersättigt aufwachsen, dass ein Mehr sie gar nicht mehr glücklicher machen kann, aber ein Weniger sofort unglücklich.

Wir haben immer extremere Erziehungsstile“

Gilt das vor allem für Kinder aus gut situierten Familien?

Ja, genau. Wir haben auch immer noch genau das Gegenteil: Stichwort Verwahrlosung. Es gibt ein großes Gap, das natürlich wieder neue Konflikte aufwirft. Kommt ein Kind aus einem Haushalt, der sich keine 200 Euro teure Schultüte leisten kann, übt das einen enormen Druck auf diese Familie aus.

Im Schnitt haben unsere Studien gezeigt, dass bildungsferne Eltern oft einen höheren Wert auf Digitalisierung legen, und versuchen, ihren Kindern immer die neuesten digitalen Geräte zu besorgen, schon in einem sehr frühen Alter, wohingegen Akademiker-Eltern in der Regel viel mehr „überbehüten“ und versuchen, ihren Kindern das Maximum an Möglichem abzunehmen.

Die Generation Alpha zeichnet ein selbstverständlicher Umgang mit digitalen Medien aus. Welche Folgen hat das?

Bei Kindern wird Digitalisierung weniger aus Effizienzgründen genutzt wie bei uns Erwachsenen, vielmehr jedoch aus Entertainment-Gründen. Kinder wachsen heute übersättigt auf, mit vielen Aktionswechseln, die sie gar nicht mehr richtig verarbeiten können. Also ein Dauerfeuer in der analogen Welt. Und jetzt kommt noch die digitale Welt hinzu. Im Hier und Jetzt können sofort alle Bedürfnisse erfüllt, und es kann permanent auf alles zugegriffen werden. Kinder können zum Beispiel jederzeit auf Youtube Kids die Lieblingsfolge von „Paw Patrol“ anschauen und müssen keine Strategie entwickeln, Langeweile auszuhalten. Sie müssen nicht abwarten, bis die Folge zu einer bestimmten Uhrzeit läuft. Dadurch werden Dinge entwertet. Deswegen ist Digitalisierung für Kinder Fluch und Segen. Eltern haben es oft lieber, dass die Kinder auf dem Tablet spielen, als allein auf einem Baum herumklettern. Aber wenn sich Kinder zum Beispiel drei Stunden lang Tiktok-Videos anschauen, wissen sie am Ende gar nicht, was sie wirklich gemacht haben. Digitalisierung hat unglaubliche Vorteile, aber, wie alles im Leben, kann zu viel Konsum schaden. In unserer Umfrage haben Eltern angegeben, von ihren zwei- oder dreijährigen Kindern bis zu siebentausend Fotos zu haben. Das bedeutet, dass es siebentausend Momente in dem Kinderleben gab, in dem das Kind mit einer Handy-Feedback-Schleife belohnt wurde. Zwischen den Eltern und dem Kind war in diesen Momenten immer das Handy. Das Kind macht etwas Lustiges, die Eltern holen ihr Handy raus und sagen: „Oh, das ist toll, mach es noch mal!“ Wenn das mal ausbleibt, dann kann es sein, dass Kinder davon ausgehen, dass die Aktion weniger gut war. Wir sehen Unterschiede zwischen Menschen, die durch die digitale Welt mitsozialisiert worden sind und Menschen, die eine rein analoge Kindheit und Jugend hatten. Letztere gehen oft mit einer anderen Resilienz in Netz.

Digitalisierung ist für Kinder Fluch und Segen“

Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Kindheitsglück ausgewirkt?

Negativ. Jetzt durften Kinder noch weniger draußen spielen, noch weniger in den Kindergarten, noch weniger andere Kinder treffen. Corona war kein Auslöser, aber ein Verstärker. Es gab die digitale Grundschule und so weiter. Corona und die daraus abgeleiteten Maßnahmen haben das Ganze noch verschlimmert.

Was kann dazu beitragen, dass Kinder glücklicher sind?

Im Endeffekt müssen wir die Kinder ernster nehmen. Und zwar als Kinder ernster nehmen. Wir müssen die analoge Welt interessanter machen und die digitale Welt verständlicher. Es ist nicht okay, wenn Eltern ihre Kinder in der analogen Welt überbehüten und in der digitalen Welt völlig allein lassen mit all den Risiken. Von Cyberstalking über Cyberbullying bis hin zu allem, was es da gibt. Wenn Eltern sagen: Das Digitale interessiert mich nicht, dann kann es im Umkehrschluss bedeuten: Vierzig Prozent des Lebens meines Kindes interessieren mich nicht.

Liegt Kindheitsglück zwischen Armut und Überfluss?

Es kommt immer darauf an, wie wir damit umgehen. Also ich kann reich sein, muss meine Kinder aber nicht überbehüten oder übersättigen. Ich kann arm sein und kann meinen Kindern unglaubliche Liebe und Zuneigung geben. Bei der Übersättigung geht es oft gar nicht mehr um die Kinder, sondern um mich – darum, den eigenen Kindern mehr zu geben als der Nachbar seinen Kindern. Wir müssen hinterfragen, ob dieser ganze Konsum so sinnvoll ist.


GLÜCKSVERSPRECHEN - Aktiv im Thema

migrapolis.de | Das Haus der Vielfalt in Bonn „nutzt und fördert die Potenziale unserer postmigrantischen Gesellschaft“ insbesondere durch Fortbildungs- und Beratungsangebote sowie Forschung.
integreater.de | In dem in Berlin ansässigen Verein „engagieren sich junge Menschen mit Migrationsgeschichte, um mit ihren Biografien Schülerinnen und Schüler zu empowern“.
idaev.de | Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. in Düsseldorf bietet unter anderem Bildungsangebote zum Umgang mit Rassismus und Diskriminierung an.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de

Interview: Joana Keip

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