In Essen hält man zusammen. Zerrin Blumenkind, die an diesem Abend die Moderation übernahm, wies auf die anderen Essener „Homeslams“ hin: Neben dem Slam in der Heldenbar, der WestStadtStory und dem Campus-Slam bildet der Dichterwettstreit im Rüttenscheider Emo die vierte Slam-Säule der Ruhrmetropole. Mit vielen bekannten Gesichtern ging es also in die schon 33. Ausgabe. Perspektiven, Möglichkeiten, Vergeblichkeiten. Nah am Alltäglichen oder nichts als das Leben als Brennpunkt für die zahlreichen Texte – die Worte der PoetInnen drehten sich um Themen, die nicht selten die Verarbeitung von autobiographischem Gehalt gewährten. Coo machte den Auftakt mit einem Liebestext gegen Drogenkonsum. Das lyrische Ich fragt zurückblickend, ab dem wievielten Drink und Joint die Beziehung ins Unglück kippte. Geschildert wird der inflationäre Verlust der Worte von Bedeutung, wenn sie im Rausch ausgesprochen werden. Darüber, ob jeder Text zumindest als einer mit autobiographischen Mucken erscheinen soll (was auch Nebeneffekt des Performancegeschäftes ist), lässt sich streiten. Auf dem Programm steht aber, dem Leben das Flüchtige abzugewinnen, vergebene und verwirklichte Chancen zu behandeln oder, kurzum, zurückzublicken, ja oder nein gesagt zu haben. Johannes Floehrs Text mahnt lässig, ja zu sagen, wenn er in seinem Vortrag nonchalant übers Absagen erzählt. Es geht um Marie, die dem Ich-Erzähler spontan vorschlägt, sie zu einem Musikfestival zu begleiten. Entweder, oder: Zusagen oder Absagen. Aus dem Absagen speist sich hier letztendlich erst der literarische Stoff, denn einstweilen verschoben wird das Jasagen auch in Floehrs amüsanter Hymne über die nerdige Programmkino-Nische: „Du tapferes Relikt vergangener Tage“. Leben und Schreiben, darüber reflektiert auch Christoph Koitka in seinem Text „Worte und Taten“: Natürlich gilt das Schreiben auch hier dem obskuren Objekt der Begierde – auch dann, wenn Minnelieder ihre Funktion nicht erfüllen: „Mich selbst hätte ich verführt.“
Plädoyer fürs Sprechen gegen den Smartphone-Wahnsinn
Im Finale verlas Johannes Floehr witzige Träumereien über den Ruhm eines Slammers und stellt fest: „Der größte Witz bleibt das Leben an sich“. Die Devise? Geschichten erleben statt schreiben. Das Erlebnis musste als Muse herhalten. Die Dichtungen drängten an diesem Abend, die Möglichkeiten des Lebens zu nutzen, aber gäbe es immer diese Möglichkeiten, wer drängt dann zum Dichten? Via Lärmpegel im Publikum wurde Björn Gögge als Sieger ermittelt. Im Finaltext beklagte er eine apokalyptisch anmutende Whatsapp- und Facebook-Entfremdung. Exaltiert wurde der Expressionismus-Modus aufgeboten, um gegen standardisierte Disco-Interaktion und den ganz alltäglichen „Smartphone-Wahnsinn“ zu predigen: Das lyrische Ich weiß sich „glücklich, wenn Menschen sich wieder normal unterhalten.“ Besser verdaut ist das Thema in den Sprechsalven Marits. Das Gespräch am Tresen wird auch in ihrem Vortrag auf die Facebooksitzung vertagt. Ihr Text ist ein nüchternes wie romantisches Plädoyer für (vor allem während der Balz) holprige Ansprechversuche. Das ist sympathisch wie hilfreich zugleich. Denn nach den gesprochenen Worten wartet draußen das Leben. Man hält eben zusammen.
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