Im Zeichen des diesjährigen Lesesommers stand im August Sterkrade im Fokus der Ruhr-Literaturszene. Von 5-Minuten-Lesungen in der Buchhandlung Wiebus über Arbeiterlyrik bis hin zur literarisch-historischen Stadtführung wurde anlässlich der Eröffnung der neuen Stadtbibliothek Sterkrade in diesem Jahr ein facettenreiches Programm auf die Beine gestellt, um die Stimmenvielfalt der Szene vor Ort zu zeigen. Auch Sterkrade selbst, seit 1929 Teil von Oberhausen, war und ist – besonders angesichts von Strukturwandel, Krise und Geschäftsschließungen – überraschend häufig Thema in der Literatur. Hiervon konnten sich am 14.8. über 60 Teilnehmende auf einer von Ingo Dämgen geleiteten literarischen Zeitreise ein Bild machen. Aber: „Wenn alles nichts mehr hilft, dann gibt es immer noch das Angebot eines Hypnosetherapeuten“, rät der 1972 geborene österreichische Autor Florian Neuner in seiner 2010 erschienenen, 480-seitigen „Revierlektüre“ mit dem Titel „Ruhrtext“, wo er eine – immer positivere – Haßliebe zur „Alten Mitte“ der Stadt entwickelt.
Als einer der Schlüsselorte für die Märzrevolution von 1920 wird Sterkrade unter dem Synonym „Swertrup“ in Karl Grünbergs Roman „Brennende Ruhr“ beschrieben, als Kommunisten, Linkssozialisten und Anarchisten für einige Wochen das Ruder in der Ruhr-Region übernehmen. Dieses in der bürgerlichen Geschichtsschreibung oft unterschlagene Kapitel war für Sterkrade prägender als für andere Teile des Ruhrgebiets – wurde die Gemeinde doch bald zur ‚Frontstadt‘ im Kampf gegen die ausgerechnet vom sozialdemokratischen Minister Noske beorderte Reichswehr. Historische Details hierzu erfuhren über 40 BesucherInnen eines Vortrags des Bochumer Journalisten, Politikers und Autors Günter Gleising am 17.8. im Autonomen Zentrum Mülheim. Besonders überraschend: Auch im Zuge der temporären A40-Umnutzung als „Bühne für Straßenkunst“ im Kulturhauptstadtjahr 2010 sei versucht worden, das Erinnern an die revolutionären Ereignisse von 1920, an denen etwa 100.000 bewaffnete Arbeiter in der Ruhr-Region beteiligt waren, wachzuhalten, indem der für den Aufstand symbolträchtige Essener Wasserturm mit roten Fahnen behängt wurde.
Ebenfalls während der Ruhr.2010 wurde erstmals die Idee realisiert, einen Teil der Wasserwege in der Region auch für regelmäßige kulturelle Events zu nutzen. So wurde der Rhein-Herne-Kanal unter städtischer Federführung zum „KulturKanal“ erklärt; seitdem wird dort jährlich auf dem „Kulturschiff Herne“ ein prominenter Poetry-Slam aus der Reihe „SprechReiz“ ausgetragen. So auch am 11.8., als sich rund 140 Gäste von den hintergründigen poetischen Texten derinzwischen 23-jährigen deutschen U20-Meisterin von 2012, Jule Weber, begeistern ließen, die sich im Finale knapp vor dem etwa gleich jungen Berliner Slammer Max Gebhard platzieren konnte, der mit gereimten politischen Märchen-Adaptionen bestach. Die routinierte Bonner Slammerin Anke Fuchs sowie den für Teile der Publikumsjury wohl etwas schrill auftrumpfenden Hamburger Wortkünstler Danny Grimpe verabschiedete Moderator Jason Bartsch bereits zur Pause. Schade – denn Kunst muss, wenn sie revolutionär sein soll, auch provozieren dürfen.
Literaturszene im Ruhrgebiet: Poetry-Slam-Reihe „Sprechreiz“ (Herne) | www.sprechreiz-slam.de
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