Die Unterhose aus Feinripp mit Eingriff ist hellgrau, groß, gebraucht aber frisch gewaschen. Lioba Albus hat in ihrem Berufsleben schon manches Kostüm benutzt, solch eine Hose trug sie noch nie. Aber was sein muss, muss sein. Synthetische Unterwäsche könne durch Funkenbildung bei elektrostatischer Entladung Untertage eine Explosion verursachen, wird die Kabarettistin belehrt. Als prominente Besucherin bekommt sie eine separate Umkleidekabine gestellt. Auch graues Unterhemd, blau-weiß gestreiftes Hemd, Arbeitshose, Jacke, Halstuch, Wollstrümpfe und schwere Stiefel werden von der Ruhrkohle-AG für die unterirdische Betriebsbesichtigung gestellt. Und bei der Materialausgabe gibt es noch einen Gürtel mit Atemgerät und Batterie, Knie- und Schienbeinschutz, Ohrenstöpsel, Schutzbrille, Lampe und Helm dazu. Dann geht es hinab in die Nacht. Der Korb fährt sanft an. Kaum zu glauben, dass er in knapp drei Minuten die 1000 Meter bis auf Sohle 6 zurücklegt. Nur die Helmlampen leuchten. Immer wieder nur für Sekunden sind nervöse Augenpaare zu sehen. Unten dann wähnt man sich zunächst nicht in einem Bergwerk, eher in einer großen tonnenförmigen Fabrikhalle. Zwar riecht es nach Kohlenkeller, Diesel und Schmierfett, aber die Augen erwarteten keinen großen hellen Raum.
Uwe vom Bergwerk Prosper-Haniel, der den Gästen die Zeche zeigen soll, gibt eine Unterweisung. „Wir sind jetzt Untertage. Wir sind also nicht mehr Herr und Frau Soundso sondern Kumpel und Kumpeline.“ Schüchtern wirkendes Schmunzeln mit gespielter Strenge in Richtung Lioba Albus wird sein Markenzeichen an diesem Tag. „Wir sind jetzt per Du. Wir halten in jeder Situation zusammen. Ihr hört auf mich. Immer.“
Dann besteigt die Reisegruppe den Zug. „Unser Intercity-Express“, scherzt Uwe. Die verbeulten Blechdosen auf Rädern bieten pro Abteil vier Sitzplätze. Auf einer der Außenwände hat jemand mit Filzstift geschrieben: „Jetzt ne Fluppe?“ Als Wegzehrung gibt es stattdessen Fruchtgummis. Eine halbe Stunde tuckert die Diesellok durch den Stollen. Dann geht es nur noch zu Fuß weiter, recht steil bergab. „Samstag wird spannend,“ versucht Uwe ein Gespräch mit der Kabarettistin. Die greift den Ball gekonnt auf und fragt: „Welcher Verein?“ „Knappen.“ „Aua!“, entgegnet die Fußballbegeisterte. „Etwa Zecke?“, fragt Uwe verstört. „Echte Liebe. Für immer Borussia!“, verbessert ihn die Besucherin. Ist das also auch geklärt. Stumm trabt man nebeneinander weiter hinab. „Na, warm?“, fragt Uwe. „Schon!“, antwortet Lioba Albus. „Dabei ist das von der Luft her hier noch Sauerland. Das wird erst warm, wenn wir Vorort sind“, entgegnet Uwe. Sauerland? Tatsächlich hört man Grillen zirpen. „Habt Ihr hier Grashüpfer?“, will die im sauerländischen Attendorn geborene Lioba Albus wissen. „Grillen, Mäuse und Ratten“, klärt Uwe auf. „Alles von Übertage eingeschleppt. Gedeihen hier in der Wärme prima.“ Lioba Albus schaut etwas beunruhigt auf den Boden. Wenigstens hat sie bissfeste Stiefel an. „Was sind das eigentlich für Dinger da oben?“ fragt die Besucherin und deutet auf an Ketten hängenden Brettern, auf denen große Plastikwannen stehen. Uwe erklärt, dass diese Wannen mit Wasser gefüllt sind und im Falle einer Explosion umkippen. Etwa jede 50 Meter hängt solch eine Vorrichtung herab. So kann im Katastrophenfall das Wasser die Feuerwalze löschen.
Nach einer weiteren halben Stunde Gekraxel ist die Besuchergruppe Vorort. Das Donnern und Fauchen, erst nur aus der Ferne zu hören, wird immer lauter. Plötzlich nur noch Stille. „Scheiße, Kettenriss!“ tönt es aus der Dunkelheit. Uwe kratzt sich ärgerlich am Nacken. „Das ist jetzt blöd. Wir wollten Euch den Abbau mit dem Kohlehobel zeigen. Geht aber nicht. Ich hab ja schon gesagt. Wir machen keine Show. Hier ist alles live.“ Den Besuchern ist aber auch ohne den Kohlehobel, der auf einer Strecke von mehreren hundert Metern das schwarze Gold aus dem Berg reißt, die Situation spannend genug. Auf den Knien krabbelnd bewegt sich die Gruppe vorwärts. Heiße, feuchte, staubige Luft macht das Atmen schwer. „Hier ist der sicherste Ort auf der ganzen Zeche“, erklärt Uwe. Unter dem Stempel, dessen Hydraulik viele Tonnen Gewicht tragen kann, ist gut ein Meter Platz. Stehen ist nicht. Zum Greifen nah ist die schwarzglitzernde Kohle. Das geplante Fotoshooting aber muss ausfallen. Der Mann von der Presseabteilung, der mit einer luftdicht verpackten Spezialkamera die Gruppe begleitet, flucht. Der plötzliche Temperaturanstieg hat die Linse der Kamera beschlagen lassen. Den Besuchern ist es aber gar nicht so wichtig, jetzt fotografiert zu werden. Von Ferne hört man Schmiedegeräusche. „Die Kette ist bald wieder heil. Wollt Ihr so lange noch bleiben?“, fragt Uwe. Nein, will man nicht. Der Schweiß rinnt aus allen Poren. Wieder im Stollen stehend, begegnen die Besucher einer Gruppe von Bergmännern. Fast ganz weiß sind die Besucher, fast ganz schwarz die Kumpels, manche nur im verschwitzten Unterhemd. Man wartet darauf, dass die Kette repariert ist. Übertage und auf der Bühne ist Lioba Albus eine Quasselstrippe. Hier passt sie sich dem kargen Sprachcode an. „Schwere Arbeit?“ „Jau!“ „Wie lange noch?“ Auf die Frage bekommt sie von zwei Bergleuten unterschiedliche Antworten. „Vier Stunden.“ „Vier Jahre.“ Mit etwas Verlegenheit auf beiden Seiten verabschieden sich die fast schwarzen und die fast weißen Menschen voneinander. Der Rückweg nun steil bergauf und dann erneut mit dem „Intercity-Express“ dauert wieder gut eine Stunde.
Übertage wartet eine heiße Dusche und dann in einem kargen Besprechungsraum Möhrensuppe mit Würstchen, dazu alkoholfreies Pils. Auf der einen Seite des Raumes hängen Mannschaftsbilder von Schalke 04, auf der anderen Seite welche vom BVB. Uwe erzählt, dass im Dezember 2018 Prosper-Haniel als letztes Steinkohlebergwerk Deutschlands stillgelegt wird. Die Bundesregierung wolle keine weiteren Kohlesubventionen mehr leisten. „Dann ziehen wir hier den Stecker.“ Ein Wiederanfahren des Betriebes sei nicht möglich, wenn eine Zeche erst einmal stillgelegt ist. Dabei sei es in politisch unsicheren Zeiten doch wichtig, heimische Energieträger nutzen zu können. Natürlich, das leuchtet Lioba Albus ein. Auch, dass die Importkohle, die ab 2019 ausschließlich die heimischen Kraftwerke befeuert, unter teilweise katastrophalen Arbeitsbedingungen gefördert wird. Seit 1993 gab es im Steinkohlebergbau in Deutschland keine Unglücke mit Toten. In den Ländern, aus denen nun die billige Exportkohle bezogen wird, aus Bolivien, China und Russland hingegen sind Schlagwetterexplosionen mit dutzenden, zum Teil hunderten Toten, an der Tagesordnung. Der Kabarettistin leuchtet das ein: „Der Konsument bevorzugt inzwischen fair gehandelten Kaffee, fair gehandelte Kohle hingegen gibt es nicht.“ All die wirtschaftspolitischen Argumente erscheinen in dem kleinen Raum neben den Besucherduschen schlüssig. Uwe erntet bei den Gästen Kopfnicken. Wichtig ist Lioba Albus aber ein anderer Aspekt. „Die Gemeinschaft Untertage gibt es nirgendwo anders.“ In anderen Branchen zähle der Egoist. Hier sei man füreinander verantwortlich. „Wir haben eine so große Sehnsucht nach Helden, weil es sie im wirklichen Leben nicht mehr gibt, höchstens noch hier.“ Lioba Albus deutet auf die Mannschaftsbilder an der Wand. „Der Fußball versucht, eine ähnliche Geschichte zu erzählen. Einer für alle, alle für einen.“ Jene Geschichte, schaut man auf den Spielerparkplatz vor dem Trainingsgelände, sei aber nicht immer glaubwürdig. Die Kabarettistin bringt es auf den Punkt: „Ihr werdet der Gesellschaft fehlen.“ Zum Abschied bekommt jeder Besucher noch einen Kohleklumpen, auf einem Holzsockel geklebt, geschenkt. „Schöne Grüße von der Lehrwerkstatt. Für auf den Nachttisch.“ Mit kräftigem Handschlag verabschiedet sich Uwe von den Besuchern am Zechentor. „War schön mit Euch. Glückauf!“
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