Wenn ein Regisseur unserer Zeit bizarre Stoffe beherrscht, dann ist es Yórgos Lánthimos. „Bugonia“ reiht sich in diese skurrilen Geschichten ein: Der vom Kummer über seine erkrankte Mutter zerfressene Verschwörungstheoretiker Teddy (grandios gespielt von Jesse Plemons, der auch schon in „Kinds of Kindness“ zu sehen war) entführt gemeinsam mit seinem Cousin Don (Aidan Delbis) die Chefin eines erfolgreichen Pharmazieunternehmens (Emma Stone). Teddy glaubt, diese sei ein Alien, das die Welt zerstören wolle. Fuller soll nun bis zur nächsten Mondfinsternis in drei Tagen ihr Raumschiff kontaktieren, damit Teddy und Don die Aliens davon abhalten können, die Erde zu zerstören. Mehr darf an dieser Stelle eigentlich nicht über die Handlung verraten werden, ohne den Effekt von „Bugonia“ zu mindern. Die Story ist nicht neu: „Bugonia“ ist ein Remake der südkoreanischen Sci-Fi-Komödie „Save the Green Planet!“ von Jang Joon-Hwan aus dem Jahr 2003 – Lánthimos‘ Film wählt jedoch teilweise andere Schwerpunkte und Personenkonstellationen. Der Film wirkt, als wäre er den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der USA entsprungen. Neben Plemons hat sich Lánthimos für „Bugonia“ weitere Mitglieder seines erprobten Teams an die Seite geholt: Emma Stone brilliert als entführte CEO/vermeintliches Alien und Komponist Jerskin Fendrix hat wie schon für „Poor Things“ und „Kinds of Kindness“ erneut eine so beklemmende wie exzentrische Soundkulisse geschaffen. In „Bugonia“ passt alles zusammen: Das Spiel von Stone und Plemons entfaltet zusammen mit der zeitgemäßen und tiefschürfenden Story, den einnehmenden Bildern und dem düsteren Humor eine Sogwirkung, dem man sich nicht entziehen kann. Lánthimos und die anderen Beteiligten zeigen, wie wichtig es ist, solche Geschichten gemeinsam in einem großen Saal zu sehen. Vor allem die letzten 15 Minuten haben es in sich: Sie sorgen dafür, dass aus einem sehr guten ein großartiger Film wird – und geben Anlass, das eigene Weltbild und den Zustand unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Mehr kann Kino nicht wollen.
„Sorda“ ist Spanisch und bedeutet taub oder gehörlos. Hauptfigur Angela (Miriam Garlo) ist gehörlos, doch sie lebt ein normales, fast beneidenswertes Leben in ländlicher Idylle mit ihrem liebenswerten Mann Héctor (Álvaro Cervantes). Sie geht arbeiten, feiert am Wochenende mit Freunden, genießt ihr Zuhause und die Zeit mit Héctor, der ihr zuliebe perfekt Gebärden gelernt hat und sie unterstützt, wo er nur kann. Alles läuft bestens, bis Angela schwanger wird. Das Glück des Paares wird von der Frage überschattet, ob das Baby auch gehörlos sein wird. Denn Angelas Behinderung ist vererbbar und es besteht eine 50-prozentige Chance, dass das Baby taub zur Welt kommen wird. Mit sehr viel Empathie und Authentizität schildert Eva Libertad in „Sorda – Der Klang der Welt“, wie eine Idylle Risse bekommt und zu zerbröckeln droht. Mitunter dreht die Regisseurin wortwörtlich den Ton aus. Stille im Kino! Wir nehmen den Klang der Welt auf einmal nur noch aus Angelas Perspektive wahr – eine ungewohnte Geräuschkulisse, die abwechselnd dumpf, dröhnend, schmerzhaft schrill (wenn sie zum Beispiel das von ihr verhasste Hörgerät einsetzt) und manchmal auch seltsam still ist. Da wird der Film zu einem treffenden Beispiel dafür, wie Kino Empathie wecken kann. Auf der diesjährigen Berlinale erhielt „Sorda“ den Panorama-Publikumspreis.
Außerdem neu in den Ruhr-Kinos: die Max-Frisch-Adaption „Stiller“ von Stefan Haupt, die romantische Tragikomödie „Skinny Love“ von Sigurður Anton, die Komödie „No Hit Wonder“ von Florian Dietrich, der Hunde-Horror „Good Boy – Trust His Instincts“ von Ben Leonberg, „Memory Hotel“, die tierische Verfolungungsjagd „Miau & Wau“ von Reem Kherici und das neueste Kobold-Abenteuer „Pumuckl und das große Missverständnis“ von Marcus H. Rosenmüller.
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