trailer: Frau Wanders, ist die Gesellschaft bezüglich Homosexualität in den letzten zwanzig Jahren toleranter geworden?
Lilo Wanders: Natürlich hat sich viel geändert. Zum einen durch die Gesetzgebung. Allerdings ist eine völlige Gleichstellung von homosexuellen und heterosexuellen Lebensformen hier noch immer nicht erreicht. In der Gesellschaft hat sich durch das Internet die Wahrnehmung stark gewandelt. Sowohl Informationen wie auch Pornographie sind viel leichter zugänglich. Wenn man eine Menge über Sex weiß, ist das befreiend. Und wenn eine Lebensform erst einmal akzeptiert wurde, ist diese Entwicklung auch schwer umkehrbar. So gesehen leben wir in einem toleranten Land. Schaut man nach Osteuropa oder nach Afrika, so sind die Zustände dort aber zum Fürchten.
Aufklärung führt also zu Toleranz. Wie war das damals, als Sie der Oswald Kolle der Nation waren?
Nein, ich war die Lilo Wanders der Nation. Kolle war zwei Generationen eher. Nach Oswald kam Erika Berger und dann erst kam Lilo Wanders. Eigentlich wollten wir Unterhaltung machen. Aber beim Publikum wurden wir als Aufklärungssendung verstanden.
Aber es bedurfte immer anderer neuer Figuren, Oswald, Erika, Lilo. Warum?
Aufklärung geschieht immer in Schritten. Vor Oswald Kolle herrschte ja die Restauration in der Bundesrepublik. Die Werte in den 50er Jahren ähnelten sehr denen der 30er und 40er Jahre. Bis in die 60er Jahre gab es ein Aufenthaltsbestimmungsrecht, das der Ehemann über die Ehefrau hatte. Wenn sich eine Ehefrau trennen und in ein Hotel gehen wollte, benötigte sie die Genehmigung ihres Mannes. Auch wenn sie arbeiten wollte, musste der Ehemann zustimmen. Als sich Kolle mit seiner Familie am FKK-Strand ablichten ließ, war das ein Skandal. Aus heutiger Sicht wirken die Filme von Kolle eher spießig. Aber sie waren notwendig.
Welche Tabus brach dann Lilo Wanders?
Ich weiß gar nicht, ob wir Tabus brachen. Wir boten eine sehr sorgfältig recherchierte Unterhaltungssendung. Natürlich war meine ironisch-distanzierte aber gleichzeitig freundlich-zugewandte Art wichtig dabei. Wir hatten in den zehneinhalb Jahren 750 Millionen Zuschauer, wurden von Island bis Nordafrika gesehen. Ich bekam Heiratsanträge aus der ganzen westlichen Welt. Die Figur Lilo Wanders war also auch eine Integrationsfigur. Wenn ich bei den Christopher-Street-Days auf den Wagen mitgefahren bin, haben mir alle zugewunken, ob schwul, lesbisch oder heterosexuell. Das war auch mein Ziel. Ich bin ja harmoniesüchtig, will die Menschen vereinen, will, dass alle friedlich miteinander auskommen.
Aber einen Tabubruch gab es dann doch. Sie waren doch eine der ersten Frauen im Fernsehen, die gar keine richtige Frau war.
Von vielen wurde das gar nicht so wahrgenommen. Etliche hielten mich wirklich für eine Frau. Eine Cousine meiner Mutter war Lehrerin, die hatte in ihrem Kollegium erzählt, dass sie mit mir verwandt sei und hat dabei immer das männliche Pronomen benutzt. Ihre Kolleginnen und Kollegen waren daraufhin fassungslos. Manche hielten mich auch für transsexuell und fragten mich, ob ich nach meiner Operation noch geschlechtlich empfinden könne.
War es nicht seltsam, als Mann Frauenkleidung zu tragen?
Ich habe ja schon viel eher auch Frauenrollen gespielt. In über 20 Stücken, die ich selbst oder zusammen mit Kollegen geschrieben habe, spielte ich schon die bunte Breite des ganzen Lebens und da waren auch Frauengestalten dabei.
Ist der Umstand, dass inzwischen Männer- und Frauenrollen durcheinander purzeln können, nicht auch ein Verdienst von Lilo Wanders?
Natürlich bin ich eine Galionsfigur geworden. Aber was war der Verdienst von Lilo Wanders? Es gab die Kommerzinteressen der Industrie, die auch gern ihre Pornostars in die Sendung geschickt haben. Trotzdem war bei mir nie etwas kalkuliert. Es hat sich so ergeben. Heute bin ich da etwas reflektierter. Ich selbst bin, abgesehen von manchen Beinfetischisten, kaum als erotisches Wesen gesehen worden, eher wie die gute Mutter.
Apropos, Alice Schwarzer schreibt Porno in zwei Worten. Ist Pornographie nicht unmoralisch?
Frau Schwarzer hat für mich seit ihrer Steuerhinterziehung verschissen. Und Pornographie ist natürlich nicht unmoralisch. Es gibt ein Bedürfnis, auch in der Einsamkeit sexuelle Freuden zu erleben und dabei auch Pornographie zu benutzen, um sich sexuell zu erregen. Es gibt Statistiken, die belegen, dass ab Ende der sechziger Jahre, als Pornographie leichter zugänglich wurde, die Zahl der Vergewaltigungen abnahm. Ähnlich verhält es sich mit Prostitution.
Welche Aufklärung brauchen wir heute? Oder wissen wir schon alles?
Wir wissen natürlich noch nicht alles. Und es wächst ja auch immer eine Jugend nach, die nichts weiß. Es gibt Mädchen, die teilen sich die Pille. Oder Jungs benutzen zwei Kondome übereinander. Aber wenn Gummi auf Gummi reibt, werden Kondome porös. Manche Jugendlichen glauben, dass Mädchen nicht schwanger werden können, wenn sie im Stehen poppen. Wir brauchen also noch immer gute, sachliche Aufklärung.
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