Natürlich ist er verrückt. Wer bitte schön gibt, wenn er nicht von allen guten Geistern verlassen ist, als Berufsbezeichnung „Exorzist“ an? Damit ist der Mann, Anfang Fünfzig, der mir in seiner Praxis gegenübersitzt, von unserem kulturell festgelegten Nullpunkt der scheinbaren Normalität abgerückt. Oder eben: verrückt. Doch wer jetzt meint, seine Geschichte anzuhören sei Zeitverschwendung, der ist nicht normal, sondern ignorant. Eine israelische Freundin hatte mir von diesem sonderbaren Deutschen erzählt. Jetzt sitze ich auf seiner unbequemen Couch und warte nervös auf meine erste Sitzung bei einem Exorzisten. Den Wolken nahe, auf zweitausend Metern Höhe. In San Cristóbal de las Casas, im Süden Mexikos. Hermano Sol, Bruder Sonne, so soll ich ihn nennen. Seinen richtigen Namen möchte er nicht veröffentlicht sehen. Die Menschen in Deutschland, sagt er amüsiert, „würden doch denken, dass ich total übergeschnappt bin“. Der Wind stößt ein Fenster auf. Im Innenhof gackern die Hühner. „Ich bin Exorzist“, sagt er noch einmal bedächtig und macht eine lange Pause. „Ich befreie Menschen von äußeren Energien, die in ihrem Unterbewusstsein wirken und so ihre Gefühle manipulieren.“ Hermano Sol mag tiefschwarzen Kaffee und Zigaretten. Den Rauch saugt er in unseren Gesprächspausen tief ein, so wie die Luft, bevor er spricht. Auf den ersten Blick wirkt Hermano Sol unscheinbar, fast gewöhnlich. Wie er so dasitzt, mit dem in Mexiko unvermeidlichen Poncho, seinen Turnschuhen, die ihre besten Tage hinter sich haben. Wären da nicht diese Backenknochen, die unablässig mahlen, dieser Blick, stechend und durchdringend, diese Anspannung, die sich in seinen Gesten und Sätzen entlädt. Was sind Dämonen? „Wir haben bis zu 80 fremde Energien in uns, die zerstörerischsten nenne ich Dämonen; Wesenheiten etwa oder verlorene Seelen. Dämonische Energien können aber auch sehr menschlich sein – Familienwerte, gesellschaftliche Traditionen, rigide Konzepte. Sie alle können Menschen daran hindern, sie selbst zu sein.“
TRABAJO DE PUC ́UJ – DA SIND DÄMONEN AM WERK
Hermano Sol wandelt zwischen den Welten und den Disziplinen. Dass ein Deutscher Mexikaner von ihren Dämonen befreit, ist eine Sache. Dass er in seiner Heimat als ausgebildeter Mediziner und Psychologe gearbeitet hat, macht es nichteinfacher zu verstehen, wie weit verrückt er ist. Seit drei Jahren arbeitet Hermano Sol als Exorzist. Zu ihm kommen Politiker, Anwälte und Therapeuten, aber auch Campesinos und Arbeiter. Im Bundesstaat Chiapas ist seine Tätigkeit akzeptiert, in dem magischen Weltbild vieler indigener Ureinwohner hat neben dem Glauben auch der Aberglaube Platz. So ist die Erklärung für Unerklärliches „Trabajo de Puc ́uj“ – „Da sind Dämonen am Werk“ – weit verbreitet. Und Zauberläden bieten Pulver, Heiligenbilder und spezielle Kerzen für die Erfüllung von Wünschen an. Kein Problem also, dass Hermano Sol die chiapanekische Regierung in Fragen des Bildungswesens berät.
„Ein Exorzist muss sehr anpassungsfähig sein und den Schwachpunkt der jeweiligen Energie finden. Meist teile ich mich energetisch in zwei Personen und biete mich dem Dämon als leckerer Snack an.“ Hermano Sol zündet sich die nächste Zigarette an. Ich versuche, unbemerkt meinen Mund wieder zu schließen. „Dämonen sind verrückt nach Menschen mit hoher Energie, die keine Selbstdisziplin haben.“ Während er spricht, schnappt er nach Luft, verschluckt sich fast an ihr. „Meine schwache Seite lockt die Dämonen an, die kontrollierte bewegt sie dann aus dem Patienten heraus.“ Woher hat er das Wissen für seine Arbeit? „Ich kann es einfach!“, sagt er etwas beleidigt. Nach einer Pause antwortet er doch. „Ich bin mit diesem Handwerk zur Welt gekommen, so wie alle Menschen. Doch die meisten haben ihre Verbindung zum universellen Wissen verloren.“ Unterstützt werde er von Maya-Führern, meist von den Naguals. Auf die christliche Teufelsaustreibung ist Hermano Sol gar nicht gut zu sprechen. „Unmenschlich, barbarisch!“ Sein Gesicht zieht sich in die Länge, über seinem Kopf brauen sich dunkle Wolken zusammen. „Die katholische Kirche will Menschen abhängig machen. Als schamanistischer Exorzist versuche ich, meine Klienten von äußeren Energien zu befreien, um ihnen Selbstbestimmung zurückzugeben.“
DER HERR ALS HIRTE BESCHÜTZT SEINE HERDE – BIS ER SIE SELBST SCHLACHTET
Dann ist es soweit. Hermano Sol führt mich in einen karg eingerichteten Raum, in dessen Mitte ein Bett steht. Das Fenster zur äußeren Welt ist mit einem Tuch abgehangen. In einem kleinen Regal lagern seine Werkzeuge, ein verziertes Schwert, Karten mit magischen Symbolen, Räucherstäbchen, Steine. Auf den vier Bettpfosten brennen Kerzen. Ich lege mich hin. Mir ist mulmig zumute. Mit einem sonoren Sprechgesang bittet Hermano Sol die Maya-Geister um ihre Unterstützung. Den Takt geben zwei ausrangierte Überraschungseier vor, die er mit Büroklammern gefüllt hat. Als er mir seine Hände sanft auf die Schläfen legt, überkommt mich eine tiefe Müdigkeit. Ich spüre, dass Hermano Sol Energie in meinen Kör- per sendet, wandele an der Grenze zwischen Traum und Wachbewusstsein. Dann schlafe ich ein. Als ich aufwache, ist die Sitzung vorbei. „Du bist enttäuscht, stimmt‘s?“ sagt Hermano Sol mir auf den Kopf zu. Als ich nicke, lacht er. „Das geht den meisten so, nach nur einer Sitzung erwarten sie eine Sensation. Doch ich bin Exorzist, kein Wunderheiler oder Zauberer.“ Die beste Therapie gegen Dämonen könnten sich Menschen ohnehin selbst geben. „Es ist wirksam, rationale Entscheidungen zu treffen, nicht mehr blind seinen Gefühlen zu folgen.“ Hat er Dämonen in mir gefunden? „Nein, es war eine sanfte Angelegenheit“, wieder lacht er zu laut. „Ich habe mit deinem Großvater verhandelt, dich nicht länger mit der Kollektivschuld am Nationalsozialismus zu belästigen.“ Ich bin müde und erschöpft, weiß immer weniger, was ich von all dem halten soll. „Und dann habe ich noch einen aufschlussreichen Dialog mit deiner verstorbenen Mutter geführt. Davon erzähle ich dir, wenn das Mikrofon ausgeschaltet ist.“ Als ich mich verabschiede, knüpft sich Hermano Sol noch einmal seine Lieblingsfeinde vor. „Es ist doch verrückt“, sagt er. „Die Christen folgen freiwillig dem Herrn, ihrem Hirten. Doch was ist der Job eines Hirten? Seine Herde zu beschützen – bis er sie selbst schlachtet.“ Da ist er dann wieder, dieser stechende Blick.
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