Zu schön, um wahr zu sein: In Alexander von Zemlinskys selten gespielter Oper „Der Kreidekreis“ steigt das 16-jährige Mädchen Chang-Haitang, das Opfer von Armut, Prostitution, Missbrauch, falscher Anklage und bestechlicher Justiz wird, am Schluss zur Kaiserin von China auf. Sie hat vor den kritischen Augen des Kaisers Pao die Probe auf Menschlichkeit bestanden. Im Streit mit ihrer Rivalin um ein Kind hat sie – die wahre Mutter – es nicht übers Herz gebracht, ihren Sohn zu verletzen.
Der Stoff stammt aus dem China des 13. Jahrhunderts und ähnelt der biblischen Geschichte vom „salomonischen Urteil“. 1925 schrieb Alfred Henschke, bekannt unter dem Künstlernamen Klabund, ein Schauspiel, das nach Aufführungen in Frankfurt und Berlin auf vielen Bühnen erfolgreich war. Zemlinsky wählte Klabunds „Der Kreidekreis“ zur Vorlage seiner 1930/31 geschriebenen Oper. In ihr wechseln sich Singen und Sprechen ab, mal zu Musik, mal ohne Musik; auch die musikalischen Idiome seiner Zeit setzt Zemlinsky unbekümmert nebeneinander. Süffige Wagner-Harmonik, rauschende Mahler-Orchestrierung, frecher Weill-Songstil, Tanzrhythmen und kammermusikalische Finesse: Die Musik überschreitet ebenso Genregrenzen wie das Stück selbst, das zwischen Märchen, Sozialdrama, Lehrstück und Parabel changiert.
Dieses Wechselspiel mag auch ein Grund sein, warum „Der Kreidekreis“ so selten gespielt wird. Ein anderer ist wie in vielen Fällen das Schicksal des Werks und seines Schöpfers in der Nazizeit. 1933 sollte die Oper an vier großen Bühnen gleichzeitig uraufgeführt werden. Dazu kam es nicht; die wohlwollend aufgenommene Premiere fand im Oktober 1933 in Zürich statt. Obwohl „Der Kreidekreis“ noch an mehreren deutschen Bühnen und sogar 21 Mal in Berlin gespielt werden konnte, hatte das Werk auch nach 1945 keine Chance mehr. Zemlinskys letzte vollendete Oper wurde erst 2003 in Zürich wieder aufgeführt; jüngste Inszenierungen gab es in Lyon und Karlsruhe. In Düsseldorf führt David Bösch Regie, der in Oper und Schauspiel gleichermaßen zu Hause ist. Am Pult steht Hendrik Vestmann, GMD des Oldenburgischen Staatstheaters.
Der Kreidekreis | 1. (P), 7., 14., 27.12., 12., 15.1. | Deutsche Oper am Rhein, Düsseldorf | 0211 89 25 211
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Goldene Flügel der Sehnsucht
Großes biblisches Drama: „Nabucco“ an der Oper Köln – Oper in NRW 12/24
Triumph der Güte?
„La Cenerentola“ in Essen und Hagen – Oper in NRW 12/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
„Das ist fast schon eine Satire“
Alexander Becker inszeniert „Die Piraten von Penzance“ am Opernhaus Dortmund – Premiere 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
„Erstarrte Konzertrituale aufbrechen“
Interview mit dem Direktor des Dortmunder Festivals Klangvokal, Torsten Mosgraber – Interview 05/24
Der Ring und ein schwarzer Berg
Wagner-Kosmos in Dortmund zu „Mythos und Wahrheit“ – Oper 05/24
Noten sind nicht maskulin
Das Komponistinnenfestival Her:Voice in Essen – Festival 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24