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Autor Strunk, gerade auf literarischer Hafenrundfahrt.
Kevin Vitt

Einmal „Jack the Ripper“ sein

22. Mai 2016

Heinz Strunk las im Bahnhof Langendreer aus „Der goldene Handschuh“ – Literatur 05/16

Seit die titelgebende Kiezkneipe „Zum goldenen Handschuh“ 1962 eröffnete, ist sie ein Schmelztiegel des bunten, nächtlichen Szenetreibens in St. Pauli, wie auch Treffpunkt der Unterschicht. Der Bestsellerautor Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“), selbst Hamburger, 1962 geboren, spricht von einem faszinierenden Soziotop. Er selbst habe dort, zwecks Recherche, etwa 150 Arbeitsstunden im Vorfeld abgeleistet, führt er lakonisch aus, bevor er schmunzelt und sein Publikum auflacht. Dann steigt der „Heinzer“ in seinen ersten nicht-autobiographischen Roman ein, der die Zuhörer unmittelbar an den Tresen des Handschuhs der 1970er Jahre versetzt, als die Kneipe am Hamburger Berg zur traurigen, wortwörtlichen Endstation für insgesamt vier „Honka-Frauen“ wurde.

Am besagten Tresen steht Fritz Honka, Spitzname „Fiete“, womöglich zwischen RAF-Terroristen und Flower Power-Aktivisten, nicht ahnend, dass seine Stammkneipe in einigen Jahren für immer, auf makabre Weise, mit seinem Namen verbunden sein wird. Fiete ist sturzbetrunken, wie fast immer. Der Shell-Nachtwächter leidet zudem unter einem Sprachfehler, er stottert. Durch einen Unfall ist seine Nase deformiert und eins seiner Augen schielt verdreht nach außen. Außerdem hat er riesige Hände. Gerade spricht er mit einer Person die „Leiche“ heißt, auch völlig betrunken. Es geht um eine verflossene Liebe: „D-D-Die kommt w-wieder, die ha-hab ich g-geliebt“, stammelt Fiete, hoffnungsvoll. Es folgen Ausschweifungen über eine Frau, die drei Tage lang tot im Handschuh saß, wegen dauernder Schichtwechsel unbemerkt. „Legendäre Geschichte, das!“, kommentiert Fiete, dann wird Leiche von „Soldaten-Nobert“ abgelöst.

Den Zuhörern wird die Pforte zu einer finsteren und abtrünnigen Parallelwelt geöffnet, in der Wasser ein widerliches Gesöff für Weicheier ist und Menschen über Jahrzehnte hinweg immer nur warten, wie es heißt. „Am Bremspedal festgenagelt“ und „sogar von der Sonne verarscht“, fühlen sich Heinz Strunks Handschuhgäste. Spitznamen wie „Glatzen-Dieter“ oder „Ritzen-Schorsch“ sind hier die letzten Auszeichnungen und einzig verbliebene Bewertungsmaßstäbe. „Erste-Klasse-Spitznamen“, nennt Fiete sowas. Im Verlauf weicht sein unbefriedigter sozialer Geltungsdrang immer sexistischeren und brutaleren Gewaltphantasien gegen Frauen. „Das wird nicht mehr lange gutgehen“, reflektiert er realistisch. Und schon einige Zeit später will er berühmter sein als Jack the Ripper. Der Goldene Handschuh offenbart sich als Ort extremer Sehnsüchte und Exzesse, doch auch seelischer Abgründe und rasender Wut. Strunks Dialoge zeugen dabei von seinen exzellenten Beobachtungen und bleiben über die ganze Lesung hinweg glaubwürdig. „Fiete Strunk“ stottert sich authentisch, mit typischem Dialekt, durch skurrile, bizarre und finstere Eskapaden, manchmal hart an der Grenze. Strunk verlangt hier eindeutig mehr von sich, als eine Freakshow. Neben den besagten Feldforschungen studierte er dafür auch Honkas Polizeiakten.

Szenenwechsel zu einem späteren Zeitpunkt: Die Zuhörer befinden sich in Fritz Honkas Wohnung in Hamburg-Altona. „Man muss die Wanzen zerquetschen, eh sie wieder in den Ritzen verschwunden sind“, sagt Fiete, der sich paradoxerweise auch gern bieder zeigt. Viele tote Kleintiere sind hier an die Wände genagelt worden, ebenso hunderte Poster nackter Frauen. Fiete ist nicht allein, eine ältere Prostituierte und Handschuhbekanntschaft namens Gerda ist bei ihm. Sie wird als ranzig und verwahrlost beschrieben, gelockt von Unmengen an Schnaps, den Fiete zu Hause hat. „Komm wir geh‘n jetz‘ zu Haus“, hatte Fiete gesagt und seine Frauen sagen meist sofort Ja. Das Ziel des Abends heißt jetzt „Vernichtungstrinken“, danach perverser Sex. Fiete nötigt Gerda, länger bei ihm zu bleiben. Er hofft auf einen Dreier mit Gerdas Schwester, einer Metzgerin, die Fiete ungemein anzieht. Bald beginnt er, Gerda einzusperren. Dazu unterzeichnet Gerda im Suff ohne zu zögern, einen von Fiete aufgesetzten, wahnwitzigen Vertrag über ihre „totale Versklavung“. Das einzige, was Gerda halt wirklich stört, ist der bestialische Gestank bei Fiete. Sie hätte ja schon so einiges gerochen, das könne man sich nicht vorstellen, heißt es, aber so wie das hier stinkt, muss es was Totes sein, sagt sie. Gänsehaut.

Strunk beschreibt hier bizarre, finstere Symbiosen: Das Geben und Nehmen unter völlig Selbstwertlosen, Verwahrlosten, ist für viele Zuhörer nur noch durch Lachen zu verarbeiten. Strunks Roman zeigt das Kiezmilieu, als Brutstätte für Aggression und Frustration und als Niemandsland. Honka beging seinen ersten Mord 1971. Die Leichen hatte er nie gut versteckt, sie wurden schlicht vergessen und niemals als vermisst gemeldet. Erst 1975 flogen seine Taten zufällig bei einer Brandlöschung auf, bei der Leichenteile auf Honkas Dachboden entdeckt wurden.Strunk erinnert sich, er war damals 13 Jahre alt. Er demonstriert den damals gängigen „Honka-Gruß“ – ein Handschlag mit angedeuteter Sägebewegung. Fiete Honka ist die gruselige Realität in einem fiktionalen Roman.

Kevin Vitt

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