Fast wie Brüder stehen sie zusammen auf dem Bahnsteig, der Dortmunder und der Duisburger, mit ihren Schiebermützen auf dem Kopf. Die Kappe des Duisburgers hat ein feines Fischgrätmuster, ist bräunlich, gräulich, die Kappe des Dortmunders ist grob kariertes Schwarz-Gelb. Ein goldener Zug fährt ein, und die beiden Männer steigen in unterschiedliche Waggons. Dietmar Bär nimmt den Salonwagen, Frank Baier den Bühnenwagen. Der, der für den WDR seit Jahren in Köln auf Verbrecherjagd geht und inzwischen in Berlin wohnt, soll als Prominenter das proletarische Ruhrgebiet repräsentieren. Neben einem Klavier, das in den Pausen von einem älteren, elegant gekleideten Herrn bespielt wird, sitzt Bär und liest aus dem Roman „Milch und Kohle“ von Ralf Rothmann. Was für Wege gibt es im Ruhrgebiet der Sechziger Jahre? Lehre machen, heiraten, aus Verzweiflung auch noch Meister werden, Krebs kriegen und dann in die neu gekauften Betten scheißen. Bär liest mit einem greinenden Klang in der Stimme, den die Tristesse der Handlung benötigt. Manche Zuhörer schauen aus dem Fenster, sehen die herbstliche postindustrielle Landschaft vorbeihuschen und lächeln.
RUHR.2010 hat fast vergessen, das linke Lebensgefühl abzubilden
Im Bühnenwagen steht schwankend Frank Baier zwischen Quetschkommode, Ukulele und Gitarre. Der Waggon, der über die Weichen ruckelt, lässt den 67Jährigen fast tanzen. „14 Prozent Dividende“ singt Baier, ein Kampflied aus der Zeit der Roten Ruhrarmee 1920. Fast riecht es nach dem Koks, der in den Blechtonnen der Streikposten verbrannt wurde und nach dem schwarzen Tabak, der in durchdiskutierten Nächten in WG-Küchen geraucht wurde. Dieses linke Lebensgefühl, das das Ruhrgebiet jahrzehntelang zumindest in manchen Nischen prägte, RUHR.2010 hat fast vergessen, es abzubilden. Frank Baier erzählt von Rio Reiser, der ihm „Auf einem Baum ein Kuckuck“ vorgesungen hatte, weil es ein revolutionäres Lied sei, weil der Kuckuck den Proleten symbolisiere. Und dann singt der ganze Waggon mit vollen Lungen das vermeintliche Kinderlied. Eine ältere Dame ergänzt sogar noch ein paar Strophen.
Ein anderer Waggon war einmal schneeweiß. Inzwischen ist er durch die Faserstiftschmierereien der Festivalbesucher zum mitwachsenden Kunstwerk geworden. Aus den Bordlautsprechern hört man die Stimme eines Mannes, der von seiner Arbeit als Kohlenwäscher auf der Zeche Zollverein erzählt. „Wir machten die beste Kokskohle, daumendicke Stücke.“ Das Melez-Publikum sitzt in Festtagskleidung auf den weißen Sitzbänken und lauscht dem Bericht, wie die Kohle gewaschen wurde. Waschbären nannten sich die Arbeiter. Der nächste Wagen scheint fast ganz normal zu sein. Fast. Im Hemd sitzt da ein Mandrill und spricht über Vergänglichkeit. Der Mensch in Primatengestalt gehört zur Theatergruppe „Schauplatz International“. Insgesamt gelingt der Zugfahrt tatsächlich die Darstellung von Arbeiterkultur im Ruhrgebiet. Die Berühmten spielen sie. Die Ergrauten erzählen von ihr. Und ein Affe sagt: „Beautiful Moments, but schnell vorbei!“
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