In Wuppertal spielt Selbsthilfe eine zentrale Rolle im Gesundheitssystem. Mit über 150 unterschiedlichen Gruppen bietet die Stadt eine Vielfalt an Selbsthilfeangeboten, darunter Themenschwerpunkte zu AD(H)S, Adipositas, Wirbelsäulenerkrankungen oder Zöliakie. Die Stadt macht diese Gruppen nicht nur sichtbar, sondern fördert sie aktiv über die Selbsthilfe-Kontaktstelle, die Ansprechpartner sowohl für Hilfesuchende als auch für Aktive ist. Sie begleitet bestehende Gruppen, hilft bei Neugründungen und berät bei der Beantragung von Fördermitteln.
Sichtbarkeit hilft
Geleitet wird sie von Jens Kaldasch und Christian Stein. Kaldasch ist Sozialpädagoge und hat zwanzig Jahre im Jobcenter gearbeitet, zwei davon für das Gesundheitsprojekt „Bergauf. Gesundheitsmanagement für Frauen“. Stein ist Psychologe und war zuvor beim Gesundheitsamt tätig. Gemeinsam übernahmen sie im Januar 2024 die Kontaktstelle und lernten sich hier kennen, beide stehen hinter dem Konzept der Selbsthilfe. „Selbsthilfegruppen sind nicht verpflichtet, sich bei uns zu melden“, erklärt Christian Stein. Aber natürlich böten öffentliche Sichtbarkeit und Hilfestellung für die meisten einen Vorteil.
Teil des Gesundheitssystems
Die Bedeutung von Selbsthilfe ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen. „In den letzten vierzig Jahren wurden Selbsthilfegruppen immer wichtiger für Deutschland“, erklärt Stein, „man bezeichnet sie auch als die vierte Säule des Gesundheitssystems“. Die Stadt Wuppertal habe früh erkannt, wie wichtig autonome Selbsthilfe für das Gesundheitssystem ist, so Stein. Bereits 2006 wurde die Kontaktstelle in Wuppertal eingerichtet, ein frühes Zeichen für das Verständnis, dass Selbsthilfe wichtig für das gesundheitliche und soziale Wohl ist. So stellt die Stadt den Gruppen ein gewisses Budget zur Verfügung, vor allem bei sozialen Themen. Gesundheitliche Gruppen werden in der Regel von den Krankenkassen gefördert, können unter bestimmten Bedingungen aber auch von der Stadt gefördert werden.
Die meisten Gruppen zählen zwischen fünf und zwanzig Mitgliedern, einige bis zu siebzig. Die Themen reichen weit über körperliche Erkrankungen hinaus: psychische Probleme, Trauer, Sucht, Einsamkeit oder psychosomatische Leiden gewinnen zunehmend an Bedeutung. „Bei akuten Krisen ist eine Selbsthilfegruppe nicht ausreichend“, merkt Kaldasch an. „Sie kann aber die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken.“ Kliniken würden Selbsthilfegruppen besonders für die Nachsorge empfehlen.
Analog zu digital
„Selbsthilfe ist ein Bereich, der mit der Zeit geht“, so Stein. „sie wird immer moderner und attraktiver, weil der Trend weg vom Stuhlkreis hin zu digitalen Plattformen geht.“ Davon profitieren jüngere Menschen und Personen mit eingeschränkter Mobilität.“ Auch ungewöhnliche oder spezifische Anliegen finden Gehör, wie die Gruppe für Menschen mit Cochlea-Implantaten, also Hörprothesen, zeigt, in der das Hörerlebnis klassischer Musik nach einer OP diskutiert wurde.
Selbsthilfe ist für Stein und Kaldasch unverzichtbarer Bestandteil der Versorgung. „Menschen in der Selbsthilfe sind der Kitt der Gesellschaft“, so Kaldasch, „sie unterstützen sich und wir lernen jeden Tag von ihnen“. Ihre Arbeit werde in der Stadtgesellschaft wertgeschätzt. Trotz aktueller Sozialkürzungen sei dieser Bereich bislang verschont geblieben. „Wir hoffen, das bleibt so“, sagt Kaldasch.
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