Die meisten Menschen lieben gut erzählte Geschichten. Ob von den Großeltern erzählt, schwarz auf weiß gedruckt oder audiovisuell aufbereitet im Medium Film – der Grad der Güte zeigt sich an der Eindrücklichkeit der evozierten Bilder und Gefühle. In den letzten Jahren ging der Trend im Film dahin, gute Geschichten in voller Länge zu entfalten. Kaum ein neuer Blockbuster schafft es unter zwei Stunden in die Kinos. Aronofsky und Scorsese präsentierten jüngst ihre Geschichten in epochaler Länge, und der Meister der Extended Editions, Peter Jackson, schafft es, aus einem schmalen Kinder- und Jugendbuch einen neunstündigen Dreiteiler zu machen. Es regt sich kein Widerstand bei den Rezipienten, kaum einer macht den Vorwurf, die Regisseure wären unvermögend, auf den Punkt zu kommen. Im Gegenteil – ins Detail entfaltete Geschichten mit sich entwickelnden Charakteren und sorgfältig ausgearbeiteten Wendungen erfreuen sich größter Beliebtheit. Seit längerem haben sich bei der entspannten Abendgestaltung Serien von HBO oder AMC zum Kino und zum Fernsehfilm hinzugesellt. Geschichten können über Folgen und Staffeln hinweg ihr volles Potenzial entfalten.
Doch wie sehr diese elaborierten Erzählungen auch zum Miterleben verführen, eine gute Geschichte misst sich nicht an Minuten- oder Seitenzahlen, sie benötigt nicht einmal unbedingt eine Narration. Auch Kurzfilme können innere Bilder hervorrufen, können bleibenden Eindruck hinterlassen, indem sie ein Spotlight setzen auf bemerkenswerte Momente, indem sie pointiert Perspektiven bündeln. Die diesjährigen Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen bringen diese akzentuierten Geschichten und Gedanken bereits zum 60. Mal zusammen. Seit seinem Beginn spiegelt das Festival in seinen diversen Beiträgen den jeweiligen Zeitgeist und aktuelle Bewegungen wider. Auch in diesem Jahr gerieren sich die Kurzfilme äußerst politisch, nehmen Brennpunkte dieser Welt in den Blick und stellen mit Geschichten unsere Geschichte dar.
In die Tiefe und Weite unserer Geschichte gehen in diesem Monat ebenfalls zwei weitere Festivals, die jeweils einen Länderschwerpunkt setzen. Der türkische Film darf in der deutschen Kinolandschaft nicht mehr als Randphänomen betrachtet werden. Regelmäßig zeigen Kinos im Ruhrgebiet aktuelle türkische Werke, und zwar im Original mit Untertiteln. Auch das Internationale Frauenfilmfestival nahm im vergangenen Monat Filmschaffende aus der Türkei in den Fokus, die in den letzten Jahren durch ihre Produktivität und Individualität von sich reden machten. Das türkische Filmfest Ruhr feiert vom 2.-10. Mai die Vielfalt des türkischen Films aus einem ganzen Jahrhundert. Denn 1914 lief der erste türkische Film, damals natürlich noch stumm, auf der Leinwand. Auf der Leinwand des Kinos im U, eins von sechs Filmfestkinos im Ruhrgebiet, läuft ein filmisches Kleinod türkisch-deutscher Zusammenarbeit, der Stummfilm „Das Fest der schwarzen Tulpe“ aus dem Jahre 1920 von Muhsin Ertuğrul und Marie Luise Droop. Aber auch viele neue unkonventionelle Werke, fernab von jedem Klischee, finden natürlich Eingang in das Filmfest. Gegen Klischees heißt es auch am 28. Mai bei dem Mini-Festival cine cubano im endstation.kino in Bochum. Statt Bilder von Rum, Fidel Castro und Salsa erwartet den Zuschauer der Genre-Klassiker „Vampiros en la Habana“. Der Regisseur Juan Padrón wird persönlich zu Gast sein, um seine Vampirgeschichte wie auch die erste Folge der Filmminutos zu präsentieren. Filmminutos sind kleine Geschichten, die ohne Worte auskommen und dennoch weltweit verstanden werden. Geschichten sind nun einmal packend, ob kurz oder lang, ob mit oder ohne Worten.
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