Der Frust ist groß. Der Fahrkartenautomat der Deutschen Bahn, mal wieder eine Fehlermeldung. Auf dem Bildschirm flimmert nur das Windows-XP-Logo. „Kein Wunder, dass die Automaten immer rumspacken, ist ja uralte Software“, kommentiert einer, und alle anderen nicken. Ihren Kundinnen und Kunden zeigt sich die DB nicht gerade als Vorreiter der Digitalisierung. Dabei muss man noch nicht einmal die unzähligen Social-Media-Kommentare auswerten, um zu wissen, was sich die Menschen in Bus und Bahn wünschen: ausreichende und verlässliche Verbindungen, ein Mindestmaß an Sauberkeit und Sicherheit, dazu konkrete Infos, wenn es zu Verspätungen und Ausfällen kommt; das Ganze bitte preiswert, ohne dass zu viele private Daten erhoben werden, und mittels simpel bedienbarer Ticketautomaten und Apps erhältlich. Wieso ist das eigentlich so schwer umzusetzen?
880.000 Euro pumpt Verkehrsminister Alexander Dobrindt als Fördermaßnahme in eine Vernetzungsinitiative namens „Mobility inside“. Sie will die gesamte Reisekette im öffentlichen Nah- und Fernverkehr Deutschlands in eine App bringen. Per Bus zum Bahnhof, per Zug in eine andere Stadt, dort weiter mit Tram, U-Bahn, Leihfahrrad oder Carsharing-Auto – alles zusammen in einer Anwendung suchbar, buchbar, bezahlbar. Bislang mussten Reisewillige diese Infos meist mühsam selbst zusammenfrickeln, und alle Etappen einzeln bezahlen. Denn jeder Anbieter hat andere Ticketlösungen, und wo die Logik aufhört, fängt das Preissystem an. Mit einem IC-Ticket kann man zwar in einen Regionalzug umsteigen, aber das gleiche Ticket nur für den Regionalen zu nutzen geht nicht, weil für Fahrten innerhalb eines Verkehrsverbunds nur Verbundfahrkarten gelten – strange, stranger, Personennahverkehr. Die Verkehrsverbünde hängen am Status Quo fest, mit veralteten Verkaufssystemen, abweichenden Beschaffungszeiträumen und Strukturen aus Beton – mal eben vereinheitlichen ist da nicht drin. Genau hier liegt die Chance der digitalen Transformation: Egal wie verquer die Tarifstruktur, eine kluge App kann den Ticketkauf extrem vereinfachen.
Dass nun mit Feuereifer an der ultimativen nationalen Digitallösung geschraubt wird, klingt nach Kundenfreundlichkeit, hat aber ganz andere Hintergründe. Gibt es bis 2019 kein verkehrsmittelübergreifendes elektronisches Ticketsystem in Deutschland, führen EU-Richtlinien dazu, dass Reiseplanung und Ticketvertrieb für den freien Markt, ergo neue Konkurrenten zugänglich werden. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen möchte das Marktmonopol beim Ticketverkauf aber gerne behalten. „Die Branche als verlässlicher Partner der Kunden darf nicht zum ‚Lohnkutscher‘ degradiert werden“, so Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff im VDV Magazin 02/2017. Die Liberalisierungstendenzen der EU jagen unseren guten alten Verkehrsdienstleistern ordentlich Angst ein – niemand will als Ergänzung eines Navigationssystems enden.
Noch sind die deutschen Verkehrsanbieter selbst die Schnittstelle für den Ticketkauf, und haben damit wertvolle Kundeninformationen in der eigenen Hand. Den direkten Zugriff auf die Nutzerdaten im Smartphone braucht zum Beispiel ein neues VRR-Angebot, welches Anfang 2018 in die Testphase geht. Der Grundgedanke klingt so gut, wie es simple Ideen gerne mal tun: einfach beim Einstieg in Bus oder Bahn einchecken, und beim Ausstieg den Fahrpreis nur für die tatsächlich zurückgelegte Strecke per App ausrechnen lassen. Ähnliches hat bereits die DB als „Touch&Travel“ ausprobiert und diskret wieder begraben. Neben technischen Problemen nervte es die Reisenden, dass die Verkehrsverbünde dem System nicht beigetreten waren – das alte Problem der Insellösungen. Also bot die DB diese Funktionalitäten den Verkehrsverbünden wie VRR direkt an, zum Einbau in eigene Apps.
Geht es nach Dobrindt, gibt es in ein paar Jahren keine Papiertickets mehr und eine App für alle. Viel wichtiger wäre es jedoch, den massiven Investitionsstau im Schienennetz abzubauen. Ob die bis 2019 versprochenen 28 Milliarden Euro für dessen Erhaltung und Modernisierung reichen, wird man sehen. Für Bus- und Bahnnutzende zählt erstmal, dass überhaupt etwas fährt. So lange es derart bei der Hardware klappert und hakt, auch das Busnetz so dünn bleibt und selbst einfache Anwendungen nicht laufen, liegt die Zukunft nicht in High-End-Software.
Und seien wir mal ehrlich: Sind alle Ticketautomaten weg, fehlt nicht nur den Menschen ohne Smartphone etwas. War es nicht irgendwie schön, am Automaten mehrere Euro Wechselgeld in Fünf-Cent-Stücken ausgespuckt zu bekommen? So ein Jackpot-Gefühl hat man ja sonst nicht oft im Leben. Und schon gar nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln.
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