Wonnemonat Mai? In Bezug auf die Comicveröffentlichungen kann man sich wirklich nicht beklagen! Der Belgier Oliver Schrauwen erzählt in „Arséne Schrauwen“ mit seiner faszinierenden Retroavantgarde-Grafik vom garantiert historisch verbürgten, aberwitzigen Kolonial-Abenteuer seines Großvaters. Langes Warten, große Utopien und Irrwege erinnern an Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Nur dass bei Schrauwen Surreales und Wahn eine wunderbare Verbindung mit absurdem Humor eingehen. Eine fantastische und visuell unglaublich faszinierende Reise in die Abgründe des Daseins zwischen Elefantenwürmern, Leopardenmenschen und dem einfältigen, phlegmatischen Protagonisten (Reprodukt). Auch die Hauptfigur in „Röhner“ kann man kaum einen Mann der Tat nennen. „P.“ lebt in seiner perfekt eingerichteten Wohnung vor sich hin, stets darauf bedacht, dass alles seine Ordnung hat. Nur ab und an dringt seine Nachbarin in dieses Refugium ein und stört den Ablauf. Als sich jedoch P.‘s alter Bekannter Röhner ankündigt, hat er schlimmste Vorahnungen. Und in der Tat: Röhner fühlt sich bei ihm wie zuhause und will gleich ein paar Tage bleiben. Für P. beginnt eine schwierige Zeit, in der er sich innerlich über Röhner ärgert und langwierige Überlegungen anstellt, wie er ihn wieder loswerden kann. Max Baitinger hat für seine unspektakuläre Geschichte grandiose Illustrationen gefunden. In klaren Linien zirkelt er P.‘s Lebensraum ab, um mit beeindruckenden Effekten die Störung und Auflösung desselben zu zelebrieren (Rotopolpress).
Und noch ein Meisterwerk: Adrian Tomines „Eindringlinge“ ist eine Kurzgeschichtensammlung, die die Qualitiäten des amerikanischen Künstlers voll zur Geltung bringt. In sechs Geschichten schildert Tomine die Innenansichten von Außenseitern: Mit großem Einfühlungsvermögen und emotionaler Genauigkeit zeichnet er seine Charaktere und ihr Schicksal: Tomine wählt nie das Extrem, wird nie laut in seinen Geschichten, fördert mit dieser Haltung aber überraschend viele psychologische Feinheiten an die Oberfläche. Sein narrativer Gestus verschmilzt mit seinen feinen, detailreichen Zeichnungen zu unaufdringlichen, aber unglaublich berührenden kleinen Kunstwerken (Reprodukt). Maximilien Le Roy und Loïc Locatelli Kournwsky erzählen die Geschichte von Carmen Castillo. Und von ihrem Mann Miguel Enriquez. Und von ihren Kindern und vom Vater ihres ersten Kindes, Andrés Pacal. Und von Beatriz Allende. Und ihrem Vater Salvador Allende. Die meisten der Genannten sind lange tot, Carmen Castillo ist eine Überlebende der chilenischen Diktatur unter General Pinochet. „Überlebt!“ erzählt die Geschichte von Carmen Castillo und all den anderen politisch-historisch genau und emotional berührend. Die Autoren finden auch für das kaum Vorstellbare, für Unterdrückung, Einschüchterung und Folter die entsprechenden Bilder (Edition Moderne).
„Dickie“ heißt Pieter de Poorteres dickes Kerlchen. Mal dümmlich, mal traurig, mal auch bösartig kämpft Dickie gegen die Widrigkeiten des Lebens an. Die kurzen Comic-Strips kommen ganz ohne Dialog aus, um in schwärzestem Humor die dunklen Seiten des irdischen Daseins auszuloten. Der Mensch an sich kommt bei Poortere nicht sonderlich gut weg, ein humanistisches Ideal kann man hinter all dem in naiven, schlichten Zeichnungen beschworenen Grauen und Zynismus aber doch mitunter erkennen (Avant Verlag).
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Zeichnen in Kriegszeiten
„Ukraine Comics“ in Dortmund
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Gelb mit schwarzem Humor
„Simpsons“-Jubiläumschau in Dortmund – Ruhrkunst 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Ein Quäntchen Zuversicht
Düstere, bedrohliche Welten mit kleinem Hoffnungsschimmer – ComicKultur 09/24
Kunst leben, Kunst töten
(Auto-)Biografische Comics bleiben ein großer Trend – ComicKultur 08/24
Repetitive Einsamkeit
Comics aus der (inneren) Isolation – ComicKultur 07/24
Magischer Realismus
Charlotte Brandi liest in Dortmund aus ihrem Debütroman „Fischtage“ – Lesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25