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Lesewetter

26. Juli 2012

Wortwahl 08/12

Wenn diese Zeilen das Licht der Welt erblicken, sprich: aus der Druckerpresse rattern, mag das Wetter – so Zeus will – womöglich doch noch ein sommerlicheres sein. Aber ehrlich gesagt: Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses, zwei Wochen zuvor, ist davon nichts, rein gar nichts zu spüren. Den Wetterdienst hat die Bild schon mal für überflüssig erklärt. Den alten Bauernregeln kann man auch nicht mehr vertrauen, grinst einen der Siebenschläfer in diesem Jahr doch nur übel verschlagen an. Und was der unzähligste Alligator oder Kaiman bei diesen Temperaturen in einem Regensburger (nomen est omen!) Tümpel will, ist ebenfalls nicht mehr mit dem gesunden Menschenverstand zu erklären. Vermutlich hat er angesichts des depressiven Klimas den Glauben an die Jahreszeiten verloren und sich kurzerhand höchstselbst im Sommerloch versenkt. Zu verdenken wär's ihm kaum.

Andererseits: Hätte er Boris Johnsons köstliche Politthrillerfarce „72 Jungfrauen“ (Haffmanns & Tollkemit, 411s, € 19,95) zur Hand gehabt, wäre ihm die Idee zu diesem lemminghaften Abgang vermutlich erst mal erspart geblieben. Nur so strotzend vor britisch-bissig-bösem Humor und voll des kongenial adaptierten Insiderwissens lässt der in diesem Jahr 'in echt' wiedergewählte Bürgermeister Londons vier Möchtegern-Terroristen in einem gestohlenen Krankenwagen durch die englische Hauptstadt kurven, während der verantwortliche Politiker angesichts der Schutzsperren mit seinem Rad nicht mal mehr zum Parlament durchkommt. Kultig-komisch, dem Wetter den Krieg erklärend. / Geradezu melancholisch wird man hingegen bei Jean-Claude Izzos „Marseille-Trilogie“ (Unionsverlag, 669s, € 14,95).

Die drei Bände des Klassikers der „Total Cheops“, „Chourmo“ und „Solea“ beschwören nicht nur als letzte Ode das mediterrane, multikulturelle Lebensgefühl dieser Hafenstadt, die sich langsam aber sicher zwischen Unterwelt und Großkapital aufreibt, sondern stellen den erodierenden gesellschaftlichen Prozessen in Gestalt des untersetzten Polizisten Fabio Montale einen energischen Verfechter des Genusses und der Menschenliebe entgegen. Unfair ist nur, dass sich derartige Maximen bei Sonnenschein einfach besser leben lassen. / Vielleicht sollte man es dann doch lieber handhaben wie das Alter Ego von HF Coltello, seines Zeichens Gitarrist der Band „Mutter“, dem deutschen Schweinewetter den Mittelfinger zeigen und sich mit Klampfe, Dosenbier sowie ner abgehalfterten Band in nem abgehalfterten Tourbus aufmachen, um „Einige Abenteuer und seltsame Begegnungen (im Leben des Stillen Kommandeurs)“ (Salis, 450s, € 12,99) zu erleben, statt gänzlich in der verregneten geistigen Einöde zu versauern. Punx not dead, das ist keine Frage des Klimas, höchstens des sozialen. / Allerdings ist auch das Revoluzzertum kein Zuckerschlecken, wie „Die Briefe: Ruhm tötet Alles“ (Rogner & Bernhard, 500s, € 22,95) von Jack Kerouac und Allen Ginsberg beweisen. Dabei geht es weniger um den Widerspruch zwischen Erfolg und Unabhängigkeit als vielmehr um den persönlichen Kampf mit sich selbst und seiner sozialen Umwelt, der dem beschworenen Beat nicht selten zuwiderläuft. Zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung und gnadenloser Selbstzerfleischung gehören hier Blitz und Donner einfach zum Lebensstil, genauso wie die unfassbar schönen Momente des ersten Sonnenscheins nach dem reinigenden Gewitter. / Wirklich anarchisch (und damit wetterunabhängig) wird's allerdings erst, wenn man sich mitsamt Panz und den „Bären vom Hügelwald“ (Gerstenberg, 256s, € 14,95) unter die kuschelige Decke verkriecht. Mag das Buch offiziell empfohlen ab 8 bis 10 Jahren auch als Freundschaftsgeschichte durchgehen; der Übermut, mit dem Henri van Daele den staatlichen Überbau als für das Individuum groteskes Sozialkonstrukt implodieren lässt, zwingt einen förmlich – ob mit oder ohne Kind –, all seine Sichtweisen mal wieder einer gründlichen Revision zu unterziehen. Und mit ein bisschen Glück herrscht danach tatsächlich auch wieder der Sommer.

LARS ALBAT

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