Der Mensch ist ein Psycho. Das ist die einzige Erklärung für all den Wahnsinn und Aberwitz, der uns auf diesem Planeten widerfährt respektive den wir während unserer irdischen Existenz selber abziehen. Ein jeder ein Pulverfass, dessen explosive Mischung bereits mit der Zeugung angerührt und kontinuierlich mit allerlei weiteren toxischen Zutaten versetzt wird – bis irgendein scheinbar noch so belangloser Funke eine biochemische Kettenreaktion auslöst und ein Höllenfeuer entfacht, bei dem sich jegliche Vernunft in Rauch auflöst.
So erscheint in Philippe Bessons pastellfarbenem Melodram „Venice Beach“ (dtv) zwar der Hollywood-Star James Bell als vermeintlich aktiv verantwortliche Feuerwalze, die über das wohlkonstruierte Leben eines bodenständigen Polizeiinspektors hinwegfegt. Doch der eigentliche Brandherd ist das in seinen gewissenhaft verfolgten Grundsätzen eingefrorene Phlegma des in sich gefangenen Ich-Erzählers. Sein selbstauferlegtes psychosoziales Normalitätsgelübde ist der nur allzu leicht entflammbare Nährboden, auf dem das verheerende Schicksal plötzlich brennt wie Zunder.
Wie diffizil und kleinteilig, komplex und hinterhältig sich diese ‚Veranlagung‘ gestaltet, dröselt Paul Harding in seiner poetischen, traumatisch mäandernden Introspektion eines Vater-Sohn-Verhältnisses in dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman „Tinkers“ (Luchterhand) auf. Mögen die titelgebenden fahrenden Händler und Kesselflicker auch als postmoderne Allegorie gedacht sein, so taugt ihr Leben in der Einsamkeit der Wälder, zwischen den Bedürfnissen der Kunden und dem die eigene zurechtgezimmerte Existenz verkörpernden Schoß der Familie auch als Sinnbild für die so unbewussten wie unbedachten intersubjektiven Wirkweisen. Welch giftige Mixtur Howard Crosby in seinem Stammhalter George Washington (!) angelegt hat, eröffnet sich diesem selbst auf dem Sterbebett nur in flüchtigen Einsichten.
Noch komplizierter wird dieser Erkenntnisprozess, wenn man sich ihm selbst aktiv zu nähern trachtet. Erscheint das Leben schon als schwer durchdringliche Dunstglocke, wächst das Selbst in unüberschaubare Größen- und Tiefenordnungen. Ein tiefschwarzer Pfuhl, auf dessen Grund sich über das Leben hinweg ein undefinierbares Gebräu angesammelt hat, dessen gefährliche Zusammensetzung sich erst dann offenbart, wenn der entscheidende Tropfen eine psychodramatische Explosion auslöst. In diesem Sinn erscheint die in Rückblenden konzipierte Montagetechnik in Lisa Kränzers fesselndem Debütroman „Export A“ (Verbrecher) als einzig plausible Annäherungsweise an die stofflose Realität des mutwilligen Selbstkonstrukts, das sich erst im Ereignis des Unvorhersehbaren kristallisiert.
So faszinierend wirklichkeitsnah sich die fragile Coming-of-Age-Story über eine Austauschschülerin zwischen Punk und injizierten Konventionen des Unbeschreiblichen annimmt, so überbordend neoromantisch verlegt George P. Pelecanos diese Problematik in eine heroische Fiktion. Mag sein heldenhafter Thriller über zwei griechischstämmige Ghetto-Kids aus dem Washington der 40er- und 50er-Jahre auch vordergründig unerbittlich auf Unterhaltung und Spannung getrimmte Belletristik sein, so lauert in ihrem „Big Blowdown“ (DuMont) doch der gleiche Wahnwitz, der die zwischen Emotionalität und Rationalität verlorenen Menschenseelen immer wieder scheitern lässt.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Lesewetter
Wortwahl 08/12
Namhafte Begleiter
Wortwahl 07/12
Lebendige Fiktion
Wortwahl 06/12
Life's a Bitch
Wortwahl 05/12
Ententhusiasmiert
Wortwahl 03/12
In bester Erinnerung
Wortwahl 02/12
Christmas Hotel
Wortwahl 01/12
Save me a place
Wortwahl 12/11
Über Leben
Wortwahl 11/11
Bodenlos?
Wortwahl 10/11
Krank?
Wortwahl 09/11
Egoshooter
Wortwahl 08/11
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Hartmut und Franz
Oliver Uschmann und sein Roman über das Verschwinden von Kafka – Literaturporträt 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
„Charaktere mit echten Biografien“
Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25