Oder doch nur verrückt? Das ist hier die Frage. In einer Welt, die höchst bedenkliche Symptome aufweist: Es kracht und knallt, bumst und gangbanged an allen Ecken und Enden der Welt. Selbst Mutter Natur, der Menschheit bis dato langmütigste Begleiterin, scheint sich dem derzeitigen Niedergangsszenario angeschlossen zu haben. Wenn nicht jetzt, wann dann wäre evolutionspsycholgisch der Zeitpunkt gekommen, wieder enger zusammenzurücken, um dem Mängelwesen Mensch zumindest eine gewisse Überlebenschance zu garantieren. Aber scheinbar hat uns unsere Kultur als Ersatznatur in eine vermaledeite Sackgasse geführt, in welcher wir uns vom eigenen Ich besessen blindwegs bis panisch über den Haufen rennen, um schlussendlich vor verschlossenen Toren zu stehen und von der nachrückenden Masse erdrückt zu werden.
Ein schon gewohnt drastisches Beispiel für die Degeneration unserer Hochzivilisation findet Charlotte Roach diesmal in ihrer schnappatmenden Paranoikerin Elisabeth Kiel, welche aberwitzige »Schoßgebete« [Piper, 288s, €16,99] gen Himmel sendet. Oder vielmehr Richtung XXL-Yogahose ihres Partners, dem sie trotz ihrer Verteufelung der Monogamie versucht in aller erotischen Kompetenz, wider ihrer feministischen Erziehung die Stange zu halten. Da kriegt man selbst beim Lesen fast einen »Ratsch am Kappes«. Doch wie heißt es so schön: Liebe macht frei!
Noch eine Spur derangierter nehmen sich die Figuren in Tony O'Neills »Sick City« [Walde+Graf, 327s, €24,95] aus. Allen voran die Meth-Junks Jeffrey und Randal, die mit einem Millionen-Dollar-schweren Stück Filmgeschichte auf Beinahe-Erfolgskurs durch die scheinheilige Stadt der Engel schlingern. Dabei sollte es nun wirklich nicht so schwer sein, die Privataufnahmen einer Sexsession von Sharon Tate, Mama Cass, Yul Brunner und Steve McQueen, gewinnbringend an den Mann zu bringen. Es sei denn, man steht sich auf fast schon sympathische Weise beständig selbst im Weg.
ER sieht das natürlich alles ein wenig globaler; zumindest bei John Niven. Bürgerkriege, Umweltsünden, skrupelloser Kapitalismus, der Verfall von Moral und Sitte, etc., pp. Logische Konsequenz: »Gott bewahre« [Heyne, 400s, €19,99] oder vielmehr: »Gott ist sauer«. Letzter Ausweg: erneut seinen Sohn auf Erden zu entsenden. Um wenigstens noch irgendeinen Draht zu den grenzdebilen Erdlingen zu bekommen, begibt sich JC, von himmlischem Dope und Jimi Hendrix' Gitarrenspiel influenziert, schließlich auf eine der teuflischsten irdischen Spielwiesen: das Gebiet der Casting Shows. Man ahnt Böses: Möge die Quote entscheiden?!
Wenn das kein Grund ist, sich dem »Durst« respektive einer der »111 Kölner Kneipen die man kennen muss« [Emons, 260s, €12,90] hinzugeben, die Bernd Imgrund kurz und bündig und vor allem immer nah am Geschehen in Zusammenarbeit mit dem trefflichen Fotografen Thilo Schmülgen portraitiert hat. Eine erkleckliche Auswahl erlesener Kaschemmen, die jeden Immi und Zugereisten in der Domstadt alsbald heimisch werden lassen sollte. Hier haust die kölsche Seele. In all ihrer köstlich widersprüchlichen Mannigfaltigkeit. Und das gilt es durchaus zu zelebrieren.
Schließlich beziehen auch ein Lenny Bruce, Robert Mitchum, Hunter S. Thompson, Abbie Hoffman, Lester Bangs und Kinky Friedman ihr grandioses Rebellentum aus einer bisweilen unauflösbaren Antithetik. Nach der Lektüre von Klaus Bittermanns sechs ungeschönten und doch wieder hemmungslos romantischen Essays zu Leben und Wandel dieser Outlaws verschmilzt die Grenze zwischen krankhaftem Wahn und genialischem Spleen zwar unaufhörlich. Dafür wird man sich aber auch ein gutes Stück bewusster, auf welch schmalem Grat wir in unserem vermeintlich Sinn oder Irrsinn wandeln. Tröstlich zu wissen: »The Crazy Never Die« [Tiamat, 272s, €16,-].
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