250 Seiten umfasst das Debüt „Lichtung“ von Antonia Kühn, und auch thematisch hat sich die Zeichnerin ein schweres Thema vorgenommen: Paul lebt mit seiner Schwester und dem Vater in einer Hochhaussiedlung. Die Familie ist wie gelähmt: Der Vater ist ständig auf Spätschicht, die Tochter hängt mit anderen Jugendlichen ab, statt zur Schule zu gehen und gerät langsam auf die schiefe Bahn. Und Paul, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, scheint langsam in seiner Vereinsamung zu erstarren. Was fehlt, ist die Mutter. Sie hat sich vor Jahren umgebracht und eine Lücke hinterlassen, die nicht zu füllen ist. Kühn erzählt in Bleistiftzeichnungen zwischen Realismus und Symbolhaftigkeit, wie die Familie langsam zerfällt, bis schließlich ein schmerzhafter Trauerprozess einsetzt. Ein erstaunlich gut geschriebenes, sehr beeindruckendes Debüt. In „Machen ist wie wollen nur krasser“ begleitet auch Valentin Krayl seinen jugendlichen Protagonisten durch eine schwere Zeit. Im direkten Vergleich harmlos, aber erste Liebe und pubertäre Selbstfindung sind auch kein Zuckerschlecken. Weil Anna angeblich auf einen Hip-Hopper in der Schule steht, versucht Karl sich als Graffiti-Artist ins rechte Licht zu rücken. Das ist mit allerhand Schwierigkeiten verbunden, aber immerhin löst er sich damit endlich aus seinem passiven Tagträumen. Eine schöne Coming-of-Age-Geschichte im angenehm schnoddrigen Strich, und auch hier gibt es einige fantastische Abweichungen vom Realismus des Szenarios. Ein Bonuspunkt für den Titel (Jaja Verlag).
Jan Bachmann setzt dem recht unbekannten Dichter Erich Mühsam ein Denkmal: „Mühsam – Anarchist in Anführungsstrichen“ erzählt von dem Poeten, der in ständiger Geldnot verwandte anschnorrt, auf Mäzene hofft, auf Kur geht, ähnlich mittellose Freunde trifft und schließlich nach München zieht, wo er später maßgeblich an der Ausrufung der Räterepublik beteiligt ist. Bachmann ist offensichtlich vom Zeichenstil der Gruppe um den Verlag L‘association, vor allem Joann Sfar und Christophe Blaine beeinflusst. Dynamischer Strich, verzerrte Perspektiven und ein trockener Humor machen „Mühsam“ zu einem kurzweiligen Einblick in eine Künstlerseele, der auf den Tagebüchern des Dichters basiert, aber recht frei mit den anekdotischen Details verfährt (Edition Moderne).
Zuletzt wurde an dieser Stelle die Zusammenarbeit von Antonio Breccia mit Hector Osterheld für „Eternauta 1969“ besprochen. Breccia hatte in diesem Remake von Osterhelds visionärem Science Fiction die Ahnung von der nahenden Junta in düsteren, abstrakten Bildern erzählt. Mit „Lovecraft“ erscheint nun ein dicker Band mit Breccias Adaptionen von Lovecraft-Geschichten, die er in den 70er Jahren mit ebenso beeindruckenden Schwarzweiß-Bildern illustrierte, die zwischen vagem Unbehagen und schierem Grauen schwanken. Auch hier finden Kenner der historischen Hintergründe bestimmt politische Anspielungen auf die Militärdiktatur (Avant Verlag). Um Diktatur, Machtmissbrauch und Korruption geht es auch in dem neuen Band „Schnitt!“ der Serie „Canardo“. Der abgehalfterte Enten-Bogart von Autor Sokal kommt mit Hilfe der Herzogin von Belgamburg aus dem Knast, um ihren Vater, scheinbar Geisel von Dschihadisten, zu befreien. Pascal Regnaud setzt das Szenario, das inzwischen Vater und Sohn Sokal gemeinsam erarbeiten, gewohnt düster, schlammig und abgefuckt um. Am Ende gibt es wieder reihenweise Tote und mittendrin eine lakonische Ente, ernüchtert ob der Schlechtigkeit der Welt (Schreiber & Leser).
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