1954 als Armenier in Anatolien geboren, war Dink eine polarisierende Persönlichkeit, die bei türkischen Nationalisten und der armenischen Diaspora gleichermaßen aneckte.
Endgültig politisierte er sich nach dem Militärputsch 1980, gründete die erste türkisch-armenische Wochenzeitung „Agos“ der türkischen Republik und rührte unter anderem an dem größten Tabu türkischer Geschichtsschreibung: dem Genozid an den Armeniern 1915. Die Anerkennung der Deportation und Ermordung von mehr als einer Millionen armenischer Männer, Frauen und Kinder, die die jungtürkische Führung in den Wirren des Ersten Weltkriegs initiierte, um das osmanische Vielvölkerreich in einen genuin türkischen Nationalstaat zu transformieren, wird von der türkischen Regierung bis heute offiziell bestritten, als Kollateralschaden des Krieges abgetan. Dink, der wie Orhan Pamuk und andere Intellektuelle mit Berufung auf den berüchtigten Artikel 301 wegen „Beleidigung der türkischen Nation“ mehrfach vor Gericht gebracht wurde, fasste viele heiße Eisen an und wurde jahrelang bedroht, bevor ihn ein minderjähriger Täter, angeblich aus eigener Motivation, erschoss.
Ein brisantes Thema, das der Film „Mordakte Hrant Dink – Armenier in der Türkei“, produziert für den WDR und arte, aufgreift. Obwohl die türkische Gemeinde im Ruhrgebiet zu den größten bundesweit gehört, fand nur ein überraschend kleines Publikum den Weg in den Kulturraum der Gelsenkirchener flora. Die Zuschauer zeigten sich aber äußerst diskussionsfreudig. Fragen zu Opferzahlen des Genozids, Archiven, EU-Politik oder Nationalstolz verrieten den heterogenen Kenntnisstand der Zuschauer. Regisseur Osman Okkan, der selbst mit Dink zu Recherchezwecken die Türkei bereist hatte und dessen Film ursprünglich als Abschluss einer Trilogie über Minderheiten in der Türkei konzipiert war, teilte auch sehr persönliche Momente.
Der Film konzentriert sich ebenso auf die Umstände der Ermordung wie auch auf die Ziele und Ideale, die Dink zeitlebens vertrat. Die eindrücklichsten Szenen neben Auftritten von Dinks Witwe Rakel sind die Statements der Redakteure der liberalen Istanbuler Zeitung „Taraf“. Diese vermuten hinter Dinks Ermordung wie viele eine staatlich gelenkte Tat, um den unbequemen Denker zu eliminieren und riskieren damit ihr eigenes Leben. Anders als Eric Friedlers Dokumentarfilm „Aghet“, der die Thematik mit von Schauspielern eingelesenen Quellenauszügen, originalem Bildmaterial und dramatischer Musik deutlich emotionalisiert, wirkt „Mordakte Hrant Dink“ weniger suggestiv und sachlicher. Emotionale Aufladung bezieht er vielmehr durch den im Zentrum stehenden Dink selbst.
Dink hat mit seinem Leben, aber auch mit seinem Tod dazu beigetragen, die Debatte um den Genozid und die Verhältnisse in der modernen Türkei zu aktualisieren, weshalb ihn der türkische Historiker und Soziologe Taner Akçam auch als „Martin Luther King der Armenier und Türken“ titulierte. Die Tatsache, dass „Mordakte Hrant Dink“ sowohl in der armenischen Hauptstadt Eriwan als auch in Istanbul gezeigt wurde, zeugt davon, dass eine Annäherung beider Fronten langwierig, aber nicht unmöglich ist. Dink selbst ging es nicht um Begrifflichkeiten oder Opferzahlen, sondern um einen offenen Dialog zwischen den Völkern und beidseitige Empathie. Er sah sich nicht zuerst als Armenier oder türkischer Staatsbürger, sondern vor allen Dingen als Mensch.
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