Innerhalb eines Jahrzehnts den CO2-Ausstoß auf die Hälfte zu drücken, ist das ambitionierte Ziel der „Innovation City Ruhr“ (ICR). Nach einem Revierstädte-Casting 2010 trägt Bottrop nun diesen Projekttitel als vorweggenommene Auszeichnung. Zwei Jahre nach dem Start hat die Kommune schon einiges auf den Weg gebracht … auch wenn das Innovative sich etwas anders gestaltet als vielleicht erwartet.
Für den Ferienbeginn ist der Wiedereinzug geplant. Bis dahin stolpert man im Wohnhaus der Familie Kewitsch aus Vonderort an jeder Ecke über Kabel, Dämmstoffplatten, Maschinen, und es wieseln Handwerkerpulks umher – die Kewitschs schlüpften notgedrungen bei den Großeltern unter. Doch der monatelange Exodus soll sich lohnen: Bisher verbrauchte der Vier-Personen-Haushalt jährlich 7.600 Kilowattstunden Strom und 65.000 kWh Wärme. Mitte Juli wird sich der 60er-Jahre-Bau in ein Plus-Energiehaus verwandelt haben. Will heißen: Durch Gebäudedämmung, das Anzapfen von Erdwärme und Solarenergie und reichlich Stromspartechnik erzeugt das Haus künftig in der Jahresbilanz mehr Energie, als es verbraucht.
Die Familie trägt als Gewinnerin einer speziellen Projektausschreibung nur die Arbeitskosten – das Material steuerten Partnerfirmen des anstiftenden „Initiativkreis Ruhrgebiet“ bei. Man könne hier praxisnah zeigen, was in Sachen Energieeffizienz schon heute möglich sei, sagt Dr. Norbert Verweyen vom Projekt-Konsortialführer, der RWE Effizienz GmbH. „Und zwar nicht mit einem Neubau auf der grünen Wiese, sondern anhand einer 50 Jahre alten Bestandsimmobilie.“ Als weitere Muster-Umbauten sind gegenwärtig ein Mehrfamilienhaus von Vivawest sowie ein Bürohaus in der Innenstadt in Planung bzw. in Handwerker-Hand.
Man sollte sich das 70.000-Einwohner-Projektgebiet in Bottrop nicht als 2.500-Hektar-Versuchslabor vorstellen, das eine Zukunftsidee nach der anderen gebiert. Was hier zum Einsatz kommt, sind im Regelfall keine Weltpremieren. „Es gibt einzelne Erst-Projekte“, weiß ICR-Projektleiter Sebastian Bittrich, „aber verfügbare Technologien und neuen Ideen zu kombinieren, ist schon allein die Innovation. Ideologisch einzigartig ist das Projekt ja sowieso.“ Nun: Eine Kläranlage als Wasserstoff-Erzeuger, der Transport von industrieller Abwärme per Container-Lkw, der Test von LED-Straßenleuchten oder die erste Vertikal-Kleinwindanlage kann man schon in Augenschein nehmen.
Das größte Plus besteht vermutlich in der Aktivierung breiter Bevölkerungsschichten. Bottrop hatte schon bei der „Inno-City“-Kandidatur mit 20.000 Bürger-Unterschriften eindrucksvoll gepunktet. Inzwischen stehen fast 9.000 Hausbesuche sowie 1.000 energetische Einzelberatungen auf der Vorzeigeliste. Es gibt die kostenlose Möglichkeit zum thermografischen Aufspüren von Wärmelecks. Auch Beratungen zur Energieeinsparung über schlichte Verhaltensänderung der Einwohner können viel Gewinn mit wenig Aufwand bedeuten. Aber bei Sanierungen und dem Einbau neuer „Hardware“ müssen Hausbesitzer vor allem in die eigene Tasche greifen. „Wir geben halt keine 500-Euro-Scheine in die Hand“, sagt Bittrich. Umso wichtiger die Überzeugungsarbeit, umso wichtiger die Vermittlung, dass Bürgerideen in Werkstätten, Foren und Arbeitskreisen geschätzt seien. Selbst wenn manch kurioser Einfall wenig Chancen auf Verwirklichung habe, sei es wichtig, Utopien zuzulassen, um daraus das Realisierbare zu destillieren.
Utopisch war sicherlich die anfangs gern gemachte Annahme, zur Umsetzung des einst auf 2,5 Milliarden Euro geschätzten Innovationsschubes würde zehn Jahre lang Fördergeld wie Manna vom Himmel regnen. Zu der Frage, wie viel Finanzhilfe denn bisher – beispielsweise – aus EU-Töpfen zugesagt oder geflossen sei, hält man sich in Bottrop äußerst bedeckt. So darf außer 500.000 Euro Starthilfe vom Land und den diversen Knowhow- und Materialgaben der Partnerunternehmen der Initiativkreis Ruhrgebiet als derzeit verlässlichster Unterstützer gelten: Ein wesentlicher Teil des Etats der ICR-Management-Gesellschaft stammt aus dieser Quelle.
Das CO2-Minderungsprojekt Bottrop soll als Blaupause für den Transfer ins Ruhrgebiet und andere Ballungsräume taugen. Zumindest die einstigen Mitbewerberstädte halten sich mit Nachfragen allerdings noch ziemlich zurück. Es mag vielleicht auch daran liegen, dass Ideen aus den Bewerbungskonzepten der anderen Revierstädte so überhaupt gar nicht Einzug in den Plan der „Innovation City“ fanden – weder der Pizza-Bringdienst „Vespa verde“ mit abgas- und lautlosen Elektro-Rollern noch die Umwandlung leerstehender Ladenlokale in gemeinschaftliche „Home Offices“. Mit deren Hilfe könnten nicht nur berufstätige Elternteile lange Fahrwege zu ihren üblichen Arbeitsplätzen einsparen.
Dafür registriert man verstärktes Interesse aus einer ganz anderen (Himmels)-Richtung: Es kommen nämlich zunehmend Delegationen aus Fernost an die Emscher. „Da spricht man beispielsweise mit dem Bürgermeister einer Gemeinde aus China“, berichtet Projektleiter Bittrich. „Und wenn die Gruppe wieder abgereist ist, googlet man, woher die denn eigentlich kam. Große Überraschung – es war der Bürgermeister einer chinesischen Millionenstadt.“
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