Bochum, 12.06.2012 – Mit ebenso viel Herzblut, aber um einiges entspannter als einstmals Kinskis „Fitzcarraldo“ hat sich Regisseur und Künstler Christoph Schlingensief ab 2008 bis zu seinem Tod im August 2010 und darüber hinaus für ein ungewöhnliches Projekt mitten in der Savanne Burkina Fasos eingesetzt. Ein Operndorf in Afrika – eine ambitionierte Kunstaktion oder eine innovative Form der Entwicklungshilfe?
Sibylle Dahrendorf begleitete dieses Vorhaben dabei mit ihrer Kamera. Den Schneideprozess und die ersten großen Erfolge konnte Schlingensief dabei nicht mehr erleben – seine Witwe Aino Laberenz führt den Traum ihres Mannes fort. Dahrendorf und Laberenz waren nun im Schauspielhaus Bochum anwesend, als der Dokumentarfilm „Knistern der Zeit“ vor zahlreichem Publikum und mit anschließendem Gespräch im Rahmen einer Theatertour präsentiert wurde.
Schlingensiefs Vorstellung von Kultur, erinnert Laberenz im anschließenden Gespräch, beruht auf dem erweiterten Kunstbegriff Joseph Beuys‘. Kunst und Leben sind eng ineinander verschränkt. Neben Wohnbehausungen rund um das schneckenförmige Theater bietet das Dorf zudem eine Schule und bald auch eine Krankenstation. Die heilende Wirkung, die der Kunst von ihm zugesprochen wurde, wurde Schlingensief selbst zwar nicht mehr zuteil, doch dennoch geht das Projekt weiter.
Die Schule konnte im Oktober 2011 eröffnet werden. Ein Herzensprojekt auch für Architekt Diébédo Francis Kéré. Der Freund Schlingensiefs wuchs in Burkina Faso auf und ist froh, die Chance auf Bildung erhalten zu haben. Auch, wenn das hieß, bis nach Europa zu gehen. Das Projekt bedeutet aber auch, „von Afrika zu lernen“, zitiert Aino Laberenz im Filmgespräch ihren Mann. Und das heißt, nicht mit europäischer Besserwissermentalität nach Burkina zu gehen, sondern den Leuten zuzuhören. So zum Beispiel in Schlingensiefs Theaterstück „Remdoogo – Via Intolleranza II“, das ebenfalls mit afrikanischer Stimme spricht und einen Export von Kultur darstellt. Hier soll also „kein Wagner nach Burkina Faso geholt“ werden. Das Land habe, so Laberenz, trotz seiner Armut eine reiche Theaterkultur und das größte westafrikanische Filmfest.
Dort sind die Stimmen auch weniger kritisch als in Deutschland. So berichtet Laberenz, dass das Schulprojekt gleichzeitig als Pilotprojekt der Regierung weitergeführt werden soll. Sie selbst setzt dabei einen Schritt nach dem anderen. Bevor das zentrale Theater im Zentrum des Dorfes stehen wird, nimmt man sich Zeit, kümmert sich zunächst um grundlegende Bedürfnisse. „Kulturschaffen“ im klassischen Sinne kann dann spielerisch hinzukommen – die letzte Einstellung der Dokumentation zeigt Kinder beim Spielen mit der Digitalkamera. Youtuben als Schulprojekt.
Abgesehen von sporadischen Schwierigkeiten, wie zeitweise das Fernbleiben der örtlichen Arbeiter von ihren Feldern, lobt eine Zuschauerin die Unkompliziertheit dieser Utopie, zumindest verglichen mit den bürokratischen Stolpersteinen hierzulande. Dennoch bemerkt Laberenz, ständig auf der Suche nach Geldgebern und Spendern zu sein (siehe offizielle Homepage unten).
Ein wenig alleingelassen durch den frühen Tod Schlingensiefs fühlt sich Regisseurin Dahrendorf und hat doch einen Großteil des anwesenden Publikums von der Idee Schlingensiefs, vom Operndorf überzeugen können. Vielleicht ein wenig zu früh fertig geworden sei der Film, so ein Publikumsgast. So endet „Knistern der Zeit“ dennoch nicht mit dem Tode Christoph Schlingensiefs, sondern mit einem Hoffnungsschimmer. „Das Knistern der Zeit“ wird am 20. Juni noch im Theater Bonn mit anschließender Pressekonferenz zu sehen sein.
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