Aufbauend auf dem gleichnamigen kollaborativen Kunstprojekt der Dortmunder Werkstatt Mallinckrodtstraße zur Roma-Baukultur befasst sich der Hartware MedienKunstVerein mit vor allem in Rumänien aufkommenden expressiven Hausfassaden.
trailer: Frau Dr. Arns, was haben architektonische Fassaden mit Medienkunst zu tun?
Dr. Inke Arns: Architektonische Fassaden sind Medien im weitesten Sinne – sie vermitteln zwischen einem Innen und einem Außen. Manchmal spiegeln sie die innere Struktur eines Gebäudes wider, manchmal verschleiern sie diese Struktur. Manche Fassaden sind auffällig, manche eher zurückhaltend. Das Medium Fassade ist die Botschaft, um mit Marshall McLuhan zu sprechen. Die zweite Verbindung zur Medienkunst sind im Projekt „Faţadă/Fassade“ die beiden Schweizer Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud, die ursprünglich aus dem Kontext der Medienkunst kommen und dort sehr spannende partizipative (Kommunikations-)Projekte gemacht haben. Gleichzeitig kooperieren die beiden seit ihrem – 2012 vom Europarat ausgezeichneten – Projekt „Hotel Gelem“ sehr intensiv mit Mitgliedern der rumänischen Roma-Gemeinschaft in verschiedenen Ländern Europas. Und aus dieser Zusammenarbeit ist das Projekt Fassade entstanden. Ich war sehr begeistert, als ich im Juni 2019 das erste Mal in der Werkstatt Mallinckrodtstraße war. Hier haben die Beteiligten – einige von ihnen Bewohner*innen oder Nachbar*innen des besagten Hauses in der Schleswiger Straße – Hausmodelle gebaut, die Vorstudien für die im September 2019 realisierte Neugestaltung der Hausfassade in der Dortmunder Nordstadt sind. Viele dieser teils raumhohen Hausmodelle zeigen wir in der neuen Ausstellung des HMKV.
... und das sind Fassaden, wie sie seit Längerem in Rumänien gebaut wurden?
Ausgangspunkt für die Neugestaltung der Hausfassade in der Dortmunder Nordstadtist die bereits erwähnte Roma-Baukultur, die der rumänische Architekturhistoriker Rudolf Gräf zu den „spektakulärsten und einmaligsten Entwicklungen im postkommunistischen Rumänien“ zählt. Ähnlich wie Arbeitsmigrant*innen im Deutschland der 1960er Jahre senden auch viele rumänische Roma-Familien das im Ausland erwirtschaftete Geld zurück in die Heimat. In Rumänien wird das Geld oftmals in den Bau von Eigenheimen investiert. Viele Rom*nja realisieren dort den Traum vom eigenen Haus, der so viele Menschen auf der ganzen Welt beflügelt. Die sich durch auffällige Bauformen auszeichnenden Häuser werden von einigen – abwertend und zugleich neidisch – als „Zigeunerpaläste“ bezeichnet.
„Roma-Gemeinschaften gehören zu den am meisten von Rassismus und Marginalisierung betroffenen gesellschaftlichen Gruppen“
Roma-Baukultur als Utopie für urbane Gemeinschaften?
Roma-Gemeinschaften gehören in der Geschichte und Gegenwart zu den am meisten von Rassismus und Marginalisierung betroffenen gesellschaftlichen Gruppen in Europa. Aufgrund von struktureller Benachteiligung, Diskriminierung und gewaltsamer Verfolgung ist es für viele Menschen nach wie vor kaum möglich, eine Basis für eine stabile Existenz zu legen, zu der angemessener Wohnraum, Bildungschancen, kulturelle Anerkennung und ein würdevolles Arbeitsverhältnis gehören. Vor diesem Hintergrund sind die Architekturen von Roma-Communities in Rumänien nicht nur Manifestationen einer einzigartigen Baukultur, sondern auch Ausdruck einer Selbstermächtigung. Genau dafür steht auch das Fassade-Projekt in der Dortmunder Nordstadt. Sinti*zze und Rom*nja wurden und werden ja gerne als „fahrendes Volk“ tituliert, obwohl ja das „Fahrende“ am Volk eher eine Konsequenz der jahrhundertealten rassistischen Ausgrenzung ist: Sie wurden immer dort angesiedelt, wo sonst niemand wohnen wollte: bei der Müllkippe, unter der Stromleitung, außerhalb der Stadtmauern. Die Fassadengestaltung des Hauses in der Schleswiger Straße sagt: Hallo, wir sind hier und wir sind Teil dieser Gesellschaft.
„Mit einfachsten Mitteln und oft ohne Architekten gebaut“
Das hat manchmal sogar den Flair von Gaudí oder Hundertwasser.
Sicherlich können die speziellen Bauformen als Ausdruck einer Überhöhung der Idee des Hauses gelesen werden. So sind Fassaden wie auch Innenräume mit ornamentalen Farbmustern bedeckt und mit Statussymbolen verziert, während sich auf den Dächern Formen aus der globalen Architekturgeschichte finden. So findet sich in denhohen, zum Teil pagodenartig gestapelten Dächern z.B. diebarocke Kirchenarchitektur der Region wieder. Ein bisschen Disneyland, ein bisschen Dallas, Versatzstücke von Burgen, Schlössern,Villen,Anwesen – hier vermischen sich eine große Menge an medialen wie auch lokalenrumänischenEinflüssen.Die meisten Häuser scheinen von großbürgerlichen Residenzen des 19. Jahrhunderts inspiriert zu sein. Der Stil schwankt zwischen Neoklassizismus, Barock und amerikanischem Kolonialstil. Wie in der barocken Architektur ist auch hier alles, was man sieht, nur Dekor, dessen Ziel es ist, den Betrachter in Erstaunen zu versetzen.Die Fassaden der Häuser sind oft sehr ornamental und bunt gestaltet, und häufig finden sich auf den Hausdächern Türmchen oderKuppeln, Burgzinnen oder silbrig schimmernde Zwiebeldächermit Spenglerarbeiten, Metallornamenten und -verzierungen. Das Haus in der Schleswiger Straße sollte eigentlich auch solche Dachaufbauten bekommen. Leider konnte das dann aber nicht realisiert werden.
Hat aber auch ein bisschen Protz mit Mercedesstern…
Es werden halt neben der ornamentalen Wandgestaltung gerne Statussymbole als dekorative Elemente verwendet: Mercedessterne, Chanel-Logos, Versace-Embleme wie in der Fassade in der Schleswiger Straße in der Dortmunder Nordstadt. Viele dieser Häuser sehen prächtig aus, sind aber mit einfachsten Mitteln und oft ohne Architekten gebaut. Diese„Träume von Häusern“ dienen leider oft auch als Projektionsflächen und werden im aktuellen europäischen Rechtspopulismus instrumentalisiert und kriminalisiert: Diskriminierende und tendenziöse Beiträge in populären Medien berichteten im Zuge der Brexit-Kampagne beispielsweise immer wieder von „Roma gypsy palaces“, die angeblich von britischen Steuerzahler*innen unfreiwillig mitfinanziert wurden.
„Das Projekt sollte eine größere Sichtbarkeit bekommen“
Was ist denn die Vertikale des Dortmunder U?
Die Vertikale ist quasi das Treppenhaus des Dortmunder U – der hohe vertikale Raum, der alle sieben Etagen über Rolltreppen miteinander verbindet. Dort haben wir ja schon 2016-2019 – anlässlich des 20-jährigens Jubiläums des HMKV – die großartigen und auch etwas bösen Zeichnungen von Dan Perjovschi präsentiert. Und mit „Faţadă/Fassade“ schließen wir an dieses Projekt an: Mitglieder der Werkstatt Mallinckrodtstraße werden den kompletten Eingangsbereich des HMKV auf der dritten Etage des Dortmunder U sowie die Wände der Ausstellungsräume in diesem sehr bunten, ornamentalen Stil gestalten.
Kann diese Präsentation auch einen Beitrag leisten gegen die bröckelnde EU-Fassade?
Schön wäre es! Mal im Ernst: Ich fände es gut, wenn dieses Projekt eine größere Sichtbarkeit bekäme, wenn mehr Menschen von der „Fassade“ in der Schleswiger Straße 31 in der Dortmunder Nordstadt erfahren würden. Wenn ich Leuten aus anderen Städten davon erzähle, bekomme ich immer erstaunte und sehr positive Reaktionen, dass in Dortmund und im Ruhrgebiet solche Projekte möglich sind.
Faţadă/Fassade | 24.10. - 21.3. | im November geschlossen - digitale Angebote: www.hmkv.de | HMKV, Dortmunder U | 0231 13 73 21 55
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