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Feiertage im Sommer

02. Juli 2010

Strukturwandel der besonderen Art: Vom Pott zur Party - THEMA 06/10

Wie die Zeit vergeht. Am Ende des Monats ist die Hälfte des Kulturhauptstadtjahres bereits vergangen. Aber nicht ein Bergfest erwartet uns – sondern viele. RUHR.2010 nämlich begeht einige seiner vielen Höhepunkte in den kommenden Monaten. Vieles von dem Angebotenen erscheint Guinnessbuch-verdächtig. Am 5. Juni wird die Schalke-Arena mit Promis und Chören gefüllt. Manche mögen einwenden, dass dies doch jeden zweiten Samstag geschieht. Nicht so – denn sowohl Mitwirkende wie auch die vorgetragenen Lieder sind bei !SING andere. Keine Bajuwaren müssen sich ihrer Beinkleider entledigen, und statt Roberto, Rafinha und Kuranyi treten Tausende von Amateursängerinnen und -sänger den Rasen platt. Mit dabei sind Berühmtheiten wie die Sopranistin Vesselina Kasarova, die Kölner Boygroup Wise Guys und der Sommerhitsänger Bobby McFerrin. Koordinator dieser Vielstimmigkeit ist Bochums Stardirigent Steven Sloane. Und das Sangestreffen im Stadion ist nur der Abschluss und Höhepunkt einer Hunderte von Veranstaltungen zählenden Reihe. Das Ruhrgebiet erscheint als europäisches Zentrum für Chorgesang.
Zwei Wochen später erstrahlen die alten Industriedenkmäler des Reviers zu nächtlicher Stunde in neuem Glanz. Im bereits zehnten Jahr wird die „Extraschicht“ gefeiert, die die Stahl- und Betonkolosse zu Kulturbühnen umwidmet. An 50 Spielorten werden innerhalb von nur einer Nacht 200 Events angeboten. Elfen, Luftgeister und Stelzenwesen betören die Besucher am Tetraeder auf der Abraumhalde im Osten von Bottrop. In Castrop-Rauxel verwandelt sich ein ausgedientes Schwimmbad in eine Bühne, auf der sanfte Balladen vorgetragen werden. Am Gasometer Oberhausen tauchen mitternächtliche Feuerwerks-Inszenierungen die Welt in ein poetisches Licht. William Shakespeare würde seinen Sommernachtstraum hier träumen.

„STILLLEBEN“ STELLT LEBENSQUALITÄT VOR MOBILITÄTSZWANG. WARUM SIND NICHT GREENPEACE ODER DIE KULTURSZENE SELBST AUF DIESE IDEE GEKOMMEN?

Im Juli wird fast nur noch gefeiert an der Ruhr. Am 18.7. wird Deutschlands stauträchtigste Straße, die A40, zum Boulevard erklärt. Das längste Kulturfrühstück der Welt soll zwischen Duisburg und Dortmund als „Stillleben“ stattfinden und zumindest für einen Tag Lebensqualität vor Mobilitätszwang stellen. Warum nicht Greenpeace, Robin Wood oder noch militantere Umweltschützer auf diese Idee gekommen sind, sondern öffentlich-rechtliche Kulturverwalter, wird ein Geheimnis bleiben. Am gleichen Wochenende erlebt das Ruhrgebiet zum 25. Mal sein ureigenes Woodstock-Festival „Bochum Total“. Ein Jubiläum, zu dem wir gratulieren! Auch das trailer-Magazin wird sich dabei aktiv einbringen und wieder die „Wortschatzbühne“ präsentieren, mit Kabarett, Comedy, Literatur und Kleinkunst. Bei vielen neuen Bochum Total-Konzepten präsentieren sich bekannte und noch nicht ganz so bekannte KünstlerInnen den Massen. Zwei Städte weiter wummert am 24. Juli die Loveparade durch Duisburg und wird wahrscheinlich ebenfalls ca. eine Million Besucher aus dem ganzen Bundesgebiet zu uns locken.
Auch noch im Sommer, wenn auch Ende August, beginnt die Ruhrtriennale. Übergreifendes Thema des Kulturfestivals ist die islamische Welt. Damit die Leute von Pro NRW ihre selten doofen und zutiefst rassistischen Wahlplakate beim nächsten Urnengang nicht mehr unbeschadet aufhängen können, werden zumindest Kulturinteressierte die Vielfalt, Widersprüchlichkeit und auch positiven Auswirkungen auf unsere westliche Welt erfahren können. Der Nahe Osten war dem Wilden Westen einst einiges voraus. Zu Zeiten der ägyptischen und persischen Hochkultur hockte man hierzulande noch auf Bäumen und trank sein Bier aus den Schädeln seiner Feinde. Salman Rushdie, Christoph Schlingensief, Günter Grass, Jahrhunderthalle Bochum, Mischanlage Kokerei Zollverein, Maschinenhaus Zeche Carl, große Namen statten große Gebäude aus.
Das halbe Kulturhauptstadtjahr ist also fast abgelaufen. Unkende Berufspessimisten sehen das Glas leerer als halbleer und prophezeien uns für 2011 eine Kulturwüste. Aber kann trotz der desolaten Haushaltslage der Kommunen die Zukunft nicht auch ganz anders aussehen? Gläser werden nachgefüllt, wenn der Inhalt mundet. Und Kultur verändert die Welt. Im Juni 1969 fand das Woodstock-Festival statt, erst im April 1975 endete der Vietnamkrieg. Im Juni 1988 spielte Pink Floyd vor dem Reichstag, erst im November 1989 fiel die Mauer. Ebenfalls im Juni 1988 fand das Konzert für Nelson Mandela im Wembley-Stadion in London statt. In diesem Jahr feiern wir in einem von der Apartheid befreiten Südafrika die Fußballweltmeisterschaft. Warum also sollte dieses Kulturhauptstadtjahr mit seinen Massenveranstaltungen nicht auch eine Wirkung haben? Wenn die Bewohner der Region und auch die Entscheidungsträger in den Kommunen, in Düsseldorf, Berlin und Brüssel erkennen, welche positive Kraft dieser Kulturlandschaft innewohnt, können auch wieder andere Rahmenbedingungen geschaffen werden. Die Abschaffung wichtiger kommunaler Einnahmen, das Aufbürden immer neuer finanzieller Belastungen für die Städte und Gemeinden und infolgedessen die Ausblutung der öffentlichen Kassen und das Streichkonzert im kulturellen Bereich sind kein unabänderliches Naturphänomen, sondern von Menschen, genauer: von Politikern gemacht. Vielleicht bleibt 2010 als das Jahr in Erinnerung, in dem die europäische Kulturhauptstadt gegründet wurde.

Lutz Debus

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