Alle vier Jahre zur Wahlurne schleppen, Stimme abgeben und dann bis zum nächsten Mal die Klappe halten — das ist, zugespitzt formuliert, was Demokratie in diesem Land ausmacht. Doch was passiert in der Zwischenzeit? Eigentlich sollte man meinen, dass die Politiker dann ihre Wahlversprechen umsetzen, Gesetze und Haushalte verabschieden, zum Wohle des Volkes regieren. Die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Denn, wenn die Regierung gebildet ist, spielt erst so richtig die Musik. Dann schlägt die Stunde der Lobbyisten, die mit jeder Menge Geld, Geduld und der notwendigen Schamlosigkeit daran arbeiten, dass der Wählerwille den von ihnen vertretenen Interessen — Energie, Autos, Stahl, Chemie, Immobilien usw. — nicht zu sehr in die Quere kommt.
Lobbys gegen Wählerwillen
Exemplarisch verdeutlichen lässt sich das mit einem Blick in die Berliner Landespolitik. Obwohl der Basisinitiative Deutsche Wohnen & Co enteignen am 26. September 2021 mit einer Zustimmung von 59,1 Prozent zur Enteignung großer profitorientierter Immobilienkonzerne ein echter demokratischer Coup gelang, sabotiert mittlerweile schon die zweite Landesregierung den Wählerwillen. Zunächst bewies die bei der Wiederholungswahl im vergangenen Februar abgewählte Rot-grün-rote Regierung unter Franziska Giffey (SPD) – die im Ruf steht, recht dicke mit der Immobilienlobby zu sein – ihren Unwillen zur Umsetzung des Volksbegehrens. Mit einem Griff in den politischen Werkzeugkasten berief Giffey erstmal eine Expertenkommission ein – frei nach dem Motto: Wenn Du nicht mehr weiter weißt, bilde einen Arbeitskreis! Die Kommission sollte Verfassungsmäßigkeit und Kosten des Votums überprüfen. Im vergangenen Juni kam diese Kommission dann aber zu dem für die Berliner Politik unangenehmen Ergebnis, dass eine Enteignung rechtlich machbar ist. Vorbehalte, was die Finanzierung angeht, räumte die Kommission ebenfalls überwiegend aus.
Doch der im Februar neugewählte Erste Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), der seither mit der Giffey-SPD eine Koalition bildet, hat ganz eigene, „800.000 Gründe“, das Votum des Volksbegehrens nicht umzusetzen — so hoch war nämlich insgesamt der Betrag zweier Spenden, die die Berliner CDU 2020 vom Immobilieninvestor Christoph Gröner erhalten hatte. Kein Wunder also, dass Finanzsenator Stefan Evers eine Umsetzung verhindern will. Dabei entblödete er sich noch nicht einmal, in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel im September„fiskalische Gründe“ vorzuschieben – ein von der Expertenkommission bereits abgeräumtes Argument.
Zweiter Volksentscheid steht an
Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen lässt sich davon aber nicht beeindrucken und will nun einen zweiten, sogenannten Gesetzesvolksentscheid anstrengen, bei dem den Wählerinnen und Wählern ein fertig ausformuliertes Gesetz zur Enteignung von Wohnungskonzernen vorgelegt werden soll, wie dpa im November berichtete. Sollte auch dieses angenommen werden, würde am Tag nach der Abstimmung das Gesetz automatisch in Kraft treten. Viele Mieter in Berlin wollten sich das „Schmierentheater um die Verschleppung des erfolgreichen Volksentscheids“ nicht mehr bieten lassen, sagte eine Bündnis-Sprecherin. Dass es aber soweit kommen musste, einen erfolgreichen Volksentscheid unter verschärften Bedingungen zu wiederholen, ist ein Armutszeugnis für die demokratische Verfasstheit in diesem Land. Etwas mehr demokratische Demut können Wählerinnen und Wähler – also der Souverän – von ihrem politischen Personal schon erwarten.
NACH DER DEMOKRATIE - Aktiv im Thema
democracy-international.org/de | Der in Köln ansässige Verein Democracy International vernetzt Menschen, die sich für mehr Demokratie und Mitbestimmung einsetzen.
netzwerk-courage.de | Das Netzwerk für Demokratie und Courage „lebt vom Engagement vieler junger Menschen, die sich für Demokratieförderung und gegen menschenverachtendes Denken einsetzen“.
dwenteignen.de | Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen informiert über ihr Anliegen (s.a. Seite 7 in diesem Heft).
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Politik mit Vorsatz
Intro – Nach der Demokratie
„In ihrer jetzigen Form hat Demokratie keine Zukunft“
Teil 1: Interview – Soziologe Robert Jende über eine Politik jenseits von Parteizugehörigkeit
Ein Kiez gegen Rechts
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Quartiersdemokraten in Dortmund-Dorstfeld
Bröckelndes Fundament
Teil 2: Leitartikel – Was in Demokratien schief läuft
„Problematisch, wenn sich Kritik auf Demokratie an sich richtet“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Sven T. Siefken über den Zustand der Demokratie
Meine Stimme zählt
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Outline e.V. in Köln-Chorweiler
Wem glauben wir?
Teil 3: Leitartikel – Von der Freiheit der Medien und ihres Publikums
„Viele Menschen haben das Gefühl, sie werden nicht gehört“
Teil 3: Interview – Medienforscherin Dorothée Hefner über Vertrauen in politische Berichterstattung
Für eine neue Öffentlichkeit
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Mobile Oase in Wuppertal-Oberbarmen
Wir müssen reden!
Bürgerräte als demokratische Innovation – Europa-Vorbild: Belgien
Staatsmacht Schicht im Schacht
Mögen Körperflüssigkeiten den Parlamentarismus retten – Glosse
Europäische Verheißung
Teil 1: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 1: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Der andere Grusel
Teil 1: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Wildern oder auswildern
Teil 1: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 2: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 1: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?
Durch dick und dünn
Teil 2: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören