Beide Partner blicken vorwärts und in dieselbe Richtung, wenn sie gemeinsam eine Tanzfigur einnehmen. Die Körperhaltung, die sogenannte Promenadenposition, ist dafür vorgegeben, oft entlang der Geschlechtergrenzen: Der Mann öffnet in die linke, die Frau in die rechte Richtung. Ausgeprägt ist diese Rolleneinteilung etwa im Tango, bei dem der „Herr“ führt und mit seinen Armen den Rahmen vorgibt, in dem sich die Tanzpartnerinnen bewegen können.
Standardtänze wie der Walzer, Foxtrott oder eben der Tango produzieren damit Körperhaltungen, in die die Tanzenden nur noch hineinschlüpfen müssen, womit sie jedoch zugleich gesellschaftliche Dispositionen reproduzieren. Diese traditionellen Darstellungen zu hinterfragen, ist das Motiv von CocoonDance. Theoretischer Ausgangspunkt ist die „Denkfigur des ungedachten Körpers“, die CocoonDance aus Bewegungstechniken entwickelt hat, die nicht dem Tanz entstammen und die auf der Bühne dazu führen, dass eine Version von Körperlichkeit kreiert wird, die vorherrschende Codes und Vorstellungen durcheinanderwirbelt.
CocoonDance ist das Projekt von Rafaële Giovanola und Rainald Endraß. Die Choreographin und der Dramaturg riefen es im Jahr 2000 in Vorbereitung auf ihre Teilnahme am renommierten Theater-, Tanz- und Gesangsfestival in Avignon ins Leben. Sie exerzieren darin den Körper als fremde Entität und eröffnen damit eine neue Perspektive auf die eigene und die fremde Körperlichkeit. Seitdem ihre Compagnie nach Bonn zog, wo sie seitdem im freien Theater im Ballsaal auftritt, hat sie nicht nur knapp 40 Produktionen entwickelt, die auf fünf Kontinenten aufgeführt und auch mehrfach mit Preisen bedacht wurden. Sie unterfüttert die choreographischen Konzepte auch theoretisch mit einem Glossar und einer MoveApp.
Um einer Unterwanderung des Standardtanzes geht es auch in der aktuellen Produktion von CocoonDance, die im Rahmen von „Zehn X Freiheit“ im Ringlokschuppen Ruhr Premiere feiert. Der Titel lautet fast programmatisch: „Standard“. Natürlich wirkt das, was die Compagnie bereits in einem Teaser präsentiert, nicht gerade wie aus dem bewährten Tanz-Repertoire. Die Akteure tapsen auf allen vieren über die Bühne – das Haupt nach unten gestreckt, das Becken nach oben gereckt. Wie aus einer auf den Kopf gestellten Tanzwelt.
Standard | Sa. 30.10. 15 Uhr & So. 31.10. 18 Uhr | Ringlokschuppen Ruhr | 0208 99 31 60
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Trainingsraum für Begegnungen
„Nah“ im Maschinenraum Essen – Tanz an der Ruhr 11/23
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Schwofende Schwellenfigur
„Don Q“ am Musiktheater im Revier – Tanz an der Ruhr 10/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23
„Bei uns klebt sich keine:r fest“
Dramaturgin Sarah Israel über das Krefelder Tanzfestival Move! – Premiere 10/23
Kinshasa und Köln
„absence#4“ im Barnes Crossing – Tanz in NRW 09/23
Dem Horror entfliehen
„The Visitors“ bei der Ruhrtriennale – Tanz an der Ruhr 09/23
Den Nerv der Zeit erkannt
Screen Dance Academy #3 in Wuppertal – Festival 08/23
Tänzerinnen als „bad feminist“
tanz.tausch in Köln – Tanz in NRW 08/23
Den Blick weiten
Internationales Tanz-Netzwerk Studiotrade – Tanz in NRW 07/23
Die Qualität der Langsamkeit
„Precarious Moves“ beim asphalt.Festival – Tanz an der Ruhr 07/23
Visionen, Mut und Fleiß
Rund zehn Jahre Kölner Tanzfaktur – Tanz in NRW 06/23
Dialoge der Körper
SoloDuo Tanzfestival in Köln – Tanz in NRW 05/23
Das überraschende Moment
Bühnenbildner miegL und seine Handschrift – Tanz in NRW 04/23
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Akustischer Raum für den Tanz
Jörg Ritzenhoff verändert die Tanzwahrnehmung – Tanz in NRW 02/23
Kann KI Kunst?
Experimente von Choreografin Julia Riera – Tanz in NRW 01/23
Wie geht es weiter?
Mechtild Tellmann schaut auf Zukunft des Tanzes – Tanz in NRW 12/22
Der Zirkus verwandelt die Welt
„Zeit für Zirkus“ - Festival in NRW – Tanz in NRW 11/22