Grube oder Schacht: Das klingt in Kinderohren nach Abgründen, nach einer düsteren Welt, tief unten, in die der eigene Vater fuhr. Jeden Tag, jahrelang. Denn der schuftete als Bergmann. Doch die Welt „unter Tage“ betrachtete er als seine eigene. Von der Knochenarbeit musste die Familie nichts wissen. Und doch gingen ihm so manche Fachwörter über die Lippen, die kindliches Unbehagen, gar Angst auslösen können.
Aus dieser Perspektive erzählt Christine Lindemann in ihrem autobiographischen Buch „Schachthauerkind. Eine Revier-Retrospektive“. Denn die Tage des Bergmanns sind bekanntlich längst Geschichte, wie auch Lindemann weiß: Clickworker oder das Paket-Prekariat rackern sich heute auf dem Arbeitsmarkt ab. Trauer und Sehnsucht schwingen also mit, wenn es um die Erinnerung an diesen bloß angelernten Malocher, dem „proletarischen Prototyp“ geht. Und aus dieser wohlwollenden Perspektive einer Bergmanns-Tochter erinnert sich auch Lindemann an diese Ära, wie sie bei ihrer Lesung in der Zentralbibliothek Dortmund gesteht.
Doch als Fritz Lindemann, so der Name ihres Vaters, noch in der Zeche Heinrich Robert in Herringen einfuhr, war das nicht immer so: 1962 geht die Furcht um. Denn damals kommt es etwa in der Zeche Sachsen in Hamm gleich zu zwei schweren Unfällen. Eine Schlagwetterexplosion reißt 31 Bergleute in den Tod. Manche Kumpels kommen nie wieder. Das meldeten Zeitungen, darüber sprach man in der Schule. Es dringt bis in die eigenen vier Wände der Lindemanns, wie sie die Autorin erinnert: „Die Angst vor solchen Katastrophen und die konkrete Sorge um meinen Vater war ein Bestandteil unserer Familie.“
Betroffen waren sie auch vom zermürbenden Schlaf- und Wach-Rhythmus, den der Schichtdienst bedeutete. Damals empfand sie diesen „Krakengriff der Schichtarbeit“ mit Groll, wie sich Christine Lindemann erinnert. „Heute bedauere ich das sehr.“
Melancholisch blickt sie in ihrem Buch auch auf die privaten Stunden ihres Vaters und die Zeitumstände: die Schnäpschen, die sich die Kumpels nach dem Feierabend gönnten oder die Zechen-Wohnungen, die einen Garten mit sich brachten, eine „kindliche dörfliche Idylle“ trotz der Schwerstarbeit, die der Vater im urbanen Raum verrichtete. Trotzdem verherrlicht Lindemann die Vergangenheit nicht im nostalgischen Taumel. Die Subsistenzwirtschaft im eigenen Garten ordnet sie genauso wie den Zugriff auf die Arbeitskraft der Bergmanns-Frauen als wirtschaftliche Kalkulation ein. Es senkte die Lohn- und Reproduktionskosten der Kapitalisten.
Die praktizierende Fachastrologin erlebte schließlich einen Bildungsaufstieg. Es ging in die „elitäre und humanistische Lehranstalt“, besser bekannt als Gymnasium. Später folgte ein Studium, mitten in einer turbulenten, politisierten Zeit. Und bestückt mit Accessoires wie Bergmannsunterhosen erschien sie den jungen Linken wie eine waschechte Proletarierin. In der eigenen Wohnkolonie verstand das keiner: „Man hatte schon immer geahnt, dass die Gymnasiasten und Studenten nicht ganz dicht in der Birne sind.“
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Hartmut und Franz
Oliver Uschmann und sein Roman über das Verschwinden von Kafka – Literaturporträt 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
„Charaktere mit echten Biografien“
Oliver Uschmann über seinen Roman „Ausgefranzt“ – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25