Das Kino ist von gestern? Nichts könnte falscher sein. Das Kino war seiner Zeit eher immer schon voraus – eben deshalb, weil es individuelle menschliche Schicksale groß herausbringt. Ein Beispiel: Vor genau vierzig Jahren, am 26. September 1980, startete in den USA Jerrold Freedmans Krimidrama „Borderline“. Der von ITC-Tycoon Lew Grade produzierte Film – mit Charles Bronson als einsamem Grenzpolizisten Jeb Maynard, der einer Bande skrupelloser Menschenschmuggler auf die Schliche kommt – floppte. Er lief nur in den Südstaaten gut, wo er spielte und auch gedreht wurde.
Freedmans Film startet, nach einer kurzen, nächtlichen Sequenz an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, mit Gesichtern von Geflüchteten. In Großaufnahme fährt Tak Fujimotos Handkamera über verschiedene Menschen, tanzt dann von einem Grenzpolizisten zum anderen, bevor Charles Bronson mit gesenktem Kopf ins Büro tritt. Später offeriert der Film, der überhaupt nichts mit den späten, zunehmend absurden „Death Wish“-Großstadtwestern Bronsons zu tun hat, viele kurze Einblicke in Flüchtlingsschicksale. In Transportern zusammengepferchte Männer, tote Kinder, weinende Eltern, unter Motorhauben versteckte, fast zerquetschte Frauen… Ausgerechnet mit einer Mutter, deren Sohn erschossen wurde, schlecht sich der von Bronson gespielte Grenzpolizist in eine Gruppe Mexikaner – und erlebt am eigenen Leib, was nächtliche Flucht und die Jagd seiner Kollegen bedeuten.
So komplex wie der Film, von David Maciel als „erster großer Hollywoodfilm über mexikanische Immigration“ gepriesen, war auch die Vermarktung. Besonders spannend war sie im geteilten Deutschland. Als „Die Grenzlinie“ wurde „Borderline“ am 4. Juni 1982 zunächst in der DDR gestartet, bevor 1985 der Schweizer Exploitation-König Erwin C. Dietrich zugriff. Mit einem knalligen Artwork Enzo Sciottis und einer hervorragenden Synchro brachte Dietrich „Borderline“ als „Der Grenzwolf“ in die BRD-Kinos, die aber auch nicht viel mit dem Film anzufangen wussten. Hier im Ruhrgebiet war „Der Grenzwolf“ in der Schauburg Bottrop, im Universum Dortmund, Gloria Duisburg, Europa Essen und Gloria Hagen zu sehen.
Die meisten Besucher, fast 10.000, verzeichnete er im West-Berliner Zoo-Palast. Offensichtlich traf „Der Grenzwolf“ in der Grenzstadt mitten ins Herz. Bronson schätzte seinen Film übrigens sehr und meinte: „Ich denke, dass Filme bilden und unterhalten können. ‚Borderline‘ tut beides.“ Die US-Kritiker bemängelten zunächst das langsame Tempo und ausbleibende Spannungsmomente. Einige erkannten aber den Wert des Films. So titelte Don Lechman im kalifornischen News-Pilot vom 26.9.1980: „Bronson goes for relevance“. Und Lechman schloss mit den Worten: „Der wichtigste Film, den Charles Bronson je gemacht hat.“
So wunderbar komplex, überraschend und wichtig kann Kino sein.
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