Verwundert reibt man sich die Augen: Wie konnte es dazu kommen, dass das kleine Städtchen Hagen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre als die Brutstätte deutscher Musik galt? Hier fuhren Grobschnitt, die Humpe-Schwestern, the Stripes mit Nena sowie Extrabreit erste Erfolge ein, hier pilgerten junge Musikschaffende hin, um einen Hauch des NDW-Glanzes abzubekommen. Ausgerechnet Hagen?
Hüttenschließung, Stellenabbau, Leerstand: Was wegbrach, hinterließ Platz für WGs und alternativen Lebensstil. Nicht nur in den Kneipen gärte die Stimmung. Viele MusikerInnen wurzeln in der politischen Szene dieser Stadt. Zwischen gesellschaftskritischer Liedermacherei einerseits und der selbstverliebten Schwermütigkeit ewiger Rocksolos andererseits fand sich eine Band wie Extrabreit neu inspiriert von Punk und Comic. Sie wollten alles auf den Kopf stellen, frische Luft und neue Lust machen, nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit ironischer Bissigkeit.
Devotionalien und Zeitdokumente versammelt Heike Wahnbaeck, langjährige Weggefährtin und Managerin der Bands Grobschnitt und Extrabreit, in einer dreiwöchigen Ausstellung des Osthaus Museums Hagen. Die Fernuniversität Hagen untersucht soziologisch, wie sich eine solch aktive Musikszene gerade in Hagen entwickeln konnte. Beide Ansätze fließen zusammen mit Interviews in eine 352 Seiten starke Publikation ein. Begleitend finden Konzerte und Partys statt, sowie Gesprächsrunden u.a. mit MusikerInnen der Zeit, mit WDR-Rockpalast-Legende Peter Rüchel, mit Kult-KneipenwirtInnen aus Hagen, und es wird ein Blick geworfen auf die damals in Deutschland neu entstehenden musiktechnischen Berufe, u.a. bei der Talkrunde zu Frauen in der Musikbranche.
Es sind sehr unterschiedliche Wege, auf denen man in Hagen versucht, sich der Vergangenheit zu nähern, lose verbunden darin, einen maximalen Anspruch an das Thema zu richten. Über reine Nostalgie hinaus sucht man nach Wegen, etwas für die Gegenwart und Zukunft Fruchtbares herausziehen. Für die Ausstellungskuratorin Heike Wahnbaeck lag der Zauber der NDW-Dekade in dem Gefühl, endlich etwas verändern zu können. Angesichts starrer politischer Strukturen, einer als Bedrohung empfundenen allgegenwärtigen Polizeipräsenz und kleinbürgerlicher Miefigkeit galt es laut zu sein, frech und dreist, und gerade bei Extrabreit nicht nur mit einem Grinsen auf den Lippen, sondern mit Punk im Herzen.
Die Zeit ist nicht wiederholbar, schon gar nicht im Medium Ausstellung, aber die Liebe bleibt. Die Liebe zur Musik, zu Texten wie „Hurra, hurra, die Schule brennt“. Und der Stolz auf den aufrührerischen Geist, mit dem man angesichts der politischen Lähmung allerorten Knallbonbons mit Konfetti drin in die Luft warf. Explosion statt Depression, Spaßrevolte statt Resignation, so ließe sich die Energie dieser Dekade zusammenfassen. Davon könnten wir auch heute mehr gebrauchen – nicht nur in Hagen.
Komm nach Hagen, werde Pop-Star, mach Dein Glück! | Ausstellungseröffnung: Fr 31.8. 18.30 Uhr; Ausstellung bis 23.9. im Osthaus Museum Hagen | Campusfest der FernUni mit u.a. Extrabreit: Sa 1.9. ab 16 Uhr | www.osthausmuseum.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
All die Frauen und Prince
Zwei Musikbücher widmen sich Sex, Körper und Gender im Rock ‚n‘ Roll – Popkultur 06/20
„Ich wollte immer nur Liebeslieder schreiben“
Konstantin Wecker kommt nach Dortmund und Essen – Interview 08/19
Georg Dybowski
Nahaufnahme 06/19
„Pop ist die Akademie des Alltags“
Medienprofessor Marcus S. Kleiner über Pop- und Bildungskultur – Interview 04/19
„Ein Gedanke pro Song“
Guido Scholz von Kapelle Petra über Song-Rezepte und eigene Wege – Interview 03/19
„Aus akutem Kummer kann kein guter Song entstehen“
Der Bochumer Musiker und Schauspieler Dominik Buch über aufrichtige Kunst – Interview 02/19
Historische Elektrotechnik
Reissues entdecken Elektronik der 70er und frühen 80er Jahre neu – Kompakt Disk 01/19
Unterhaltsam, radikal und poetisch
Die Ruhrfestspiele setzen auf Chilly Gonzales – Improvisierte Musik in NRW 04/20
Spot on Jazz
Festival „Spot on Jazz“ in Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 03/20
Die grüne Fee ruft
Eric Friedländer und Uri Caine auf Drogentour im Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 02/20
Lieber Jazz statt Show
Der Amerikaner Kurt Elling singt in Köln und Essen – Improvisierte Musik in NRW 01/20
Dem Jazz geschenkt
Das Saxophon räumt seinen Platz als „Instrument des Jahres“ – Improvisierte Musik in NRW 12/19
Spitzentöne vom Kontrabass
Kölner Musikhochschule präsentiert starke Musikerinnen – Improvisierte Musik in NRW 11/19
Lachen durch Tränen
Gelsenkirchen setzt auf jüdische Kultur – Improvisierte Musik in NRW 11/19
Let`s Swing – beim King
Köln erhält wieder einen echten Jazzclub – Improvisierte Musik in NRW 09/19
Weltmusik unter freiem Himmel
Düsseldorf lockt mit Hofgartenkonzerten – Improvisierte Musik in NRW 08/19
Burg Linn setzt auf Hochkultur
Picknick mit improvisierter Musik – Improvisierte Musik in NRW 07/19
Groove mit „Haffner Touch“
Deutschlands berühmtester Jazz-Schlagzeuger besucht Hilden – Improvisierte Musik in NRW 06/19
„Die Tische flogen durch die Luft“
Rolf Kistenich über 40 Jahre Blue Shell – Interview 06/19 (mit Video)
Stets auf den Spuren des Neuen
Zehn Jahre Jazzfest Bonn – Improvisierte Musik in NRW 05/19
Jazz-Boom im Revier
Das Ruhr-Jazzfestival lebt in Bochum auf – Improvisierte Musik in NRW 04/19
Kultureller Austausch
Die Oud von Anouar Brahem trifft Edeljazzer – Improvisierte Musik in NRW 03/19
Wenig Töne, viel Ton
Der dänische Gitarrist Jakob Bro kommt nach Essen – Improvisierte Musik in NRW 02/19
Trommeln im Revier
Zeche Carl wird Spielort des JOE-Festivals 2019 – Improvisierte Musik in NRW 01/19
Jesus spielt Trompete
Die Mooving Krippenspielers ziehen übers Land – Improvisierte Musik in NRW 12/18