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Karl-Heinz Wehkamp
Foto: privat

„Patienten werden als Gewinnquelle gesehen“

29. April 2020

Soziologe Karl-Heinz Wehkamp über Ethik und Ökonomie der Medizin – Teil 1: Interview

trailer: Herr Wehkamp, eine Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem letzten Jahr empfiehlt, von Deutschlands 1400 Krankenhäusern 800 zu schließen. Warum?

Karl-Heinz Wehkamp: Da ist das Vorbild Dänemark, das die gesamte Bevölkerung mit nur acht Großkliniken versorgen will, die neu gebaut werden und extrem kurze Liegezeiten haben sollen. Das Gesundheitssystem ist staatlich über Steuern finanziert, dennoch dezentralisiert, sodass der Gesundheitsreform eine Gebietsreform vorausging. Das Experiment ist noch nicht abgeschlossen und auch nicht unumstritten: Die Wegezeiten sind für viele Bürger zu lang. Zum anderen bezieht sich die Bertelsmann-Studie auf die gesicherte Erkenntnis, dass die medizinische Versorgungsqualität in kleinen deutschen Kliniken statistisch gesehen schlechter ist als in Großkliniken. Das stimmt aber nur statistisch, denn letztlich liegt es am Mangel an finanziellen Ressourcen, qualifiziertem Personal, kreativem Management sowie gegebenenfalls der Attraktivität eines Standorts.

Sind gut erreichbare Krankenhäuser nicht fundamental wichtig?

Medizinisch gesehen ist klar, dass die Zeit zwischen einem Ereignis und dem Beginn von Untersuchung, Diagnosestellung und Behandlung über das Schicksal von Patienten entscheidet. Aber auch die Erreichbarkeit der Kranken durch Angehörige und Freunde ist ein wichtiger Aspekt, geht es doch um die existenziell bedeutendsten Abschnitte unseres Lebens: Schwangerschaft, Geburt, Krankheit und Sterben. Da möchte man zumeist nicht alleine sein. Wohnortnähe spielt eine große Rolle, allerdings nicht immer die entscheidende. Was nützt einem eine vertraute Umgebung oder der heimatliche Dialekt, wenn die Versorgung nicht ausreichend ist? Ideal wäre es also, sehr gute Versorgung und Wohnortnähe möglichst gut zu verbinden. Das setzt aber einen Systemwechsel in Deutschland voraus, wonach der stationäre und der ambulante Bereich miteinander verschmelzen. Um dahin zu kommen, muss allerdings die gesamte Gesundheitspolitik konsequent die Gesundheit der Menschen an die erste Stelle setzen.

Als Berater vermitteln Sie zwischen Ethik und Ökonomie. Wie steht es um dieses Verhältnis?

Die große Mehrheit aller Beschäftigten in den Kliniken versucht, die Patienten so gut es geht zu versorgen. Geschäftsführer möchten selbstverständlich ebenso eine ethisch einwandfreie Medizin. Das ärztliche und pflegerische Personal sieht jedoch krasser als das Management, dass es inzwischen systemisch und nicht nur vereinzelt zu ethischen Problemen im Krankenhaus kommt. Patienten werden aufgrund des politisch gewollten Finanzierungssystems als Gewinnquelle für das Haus gesehen. Das bedeutet, dass Aufnahme, Behandlung und Entlassung nicht allein nach medizinischen Gesichtspunkten geschehen, sondern auch nach betriebswirtschaftlichen Interessen. Für das Vertrauen in die Medizin ist das Gift. Ein zentrales ethisches Problem entsteht durch Zielkonflikte, die durch das Finanzierungsmodell geschaffen werden: die kaufmännische Leitung muss das wirtschaftliche Überleben des Krankenhauses sichern, Gewinne und, bei privaten Trägern, Profite machen. Medizin und Pflege sind primär dem Patienten verpflichtet und nicht dem Betriebsergebnis.

Was wäre ein Ausweg?

Ich habe Zweifel, dass die Führungskräfte, die uns in die jetzige Situation hineingeführt haben, uns da auch wieder herausführen. Also braucht es ein anderes Politik- und Beraterkonzept. Die Gesundheitsökonomie ist dabei wichtig, darf aber nicht die Leitdisziplin sein. Ärzte, Pflegende und Therapeuten müssen sich aktiv in das Management und damit auch in die Systemverantwortung einbringen. Gesundheitswirtschaft ist nicht verwerflich und in großen Teilen unverzichtbar, aber sie darf den sozialen Charakter eines Gesundheitssystems nicht ersetzen.

Wird auf die die Corona-Krise ein Umdenken folgen?

Ich hoffe sehr auf ein Umdenken nach der aktuellen Krise. Es ist schon makaber, wenn man bedenkt, dass der Politik vor der Corona-Krise jedes freie Intensivbett eines zu viel war und nun ist man froh, in dieser Hinsicht in Deutschland „bestens aufgestellt“ zu sein. Ich hoffe sehr, dass in der derzeitigen Lage deutlich wird, dass das Gesundheitssystem nicht in erster Linie auf betriebswirtschaftlich umgestellt werden darf. Die Situation zeigt die Grenzen ökonomischen Denkens auf. Insofern hoffe ich, dass als Fazit aus der Corona-Krise für das Gesundheitssystem bleiben wird, dass die Bevorzugung betriebswirtschaftlicher Konzepte verheerende Auswirkungen haben kann.


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Interview: Verena Düren

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