Was wäre der Mensch ohne Glauben? Nun, zum einen würde er noch mehr nicht verstehen. Und zum anderen fänden manche weniger Halt. Insofern ist der Glaube, die Spiritualität an sich von gutem Wert für eine Spezies, die sich selbst zu reflektieren vermag, neugierig ist und folglich nach Orientierung und Antworten sucht. Glaube könnte eine individuelle spirituelle Angelegenheit sein. Ich kann einfach sagen: Ich glaube an ein prima Leben nach dem Tod – und schon erscheint das Diesseits leichter. Mein Glaube versetzt Berge.
Der Mensch aber sucht nicht nur Glaube, sondern auch Bestätigung. Vor allem in dem, was er bloß glaubt. So entsteht am Anfang eine Religion. Dann noch eine. Und noch eine. Und auf einmal leben Religionen Tür an Tür. Und plötzlich steht meine Vorstellung von Glaube in Konkurrenz. Also erlege ich meinem Glauben einen Wahrheitsanspruch auf. Und damit ist die Saat gelegt zu vielem Unheil. Im Wahrheitsanspruch nämlich steckt der Teufel.
Im Wahrheitsanspruch steckt der Teufel
Der Wahrheitsanspruch degradiert Andersgläubige zu Ungläubigen. Aus spiritueller Sinnsuche erwächst ein Konkurrenzkampf. Die Formel: Je größer meine Gemeinde ist, desto größer ist mein Wahrheitsanspruch, desto größer ist schon bald auch meine weltliche Macht. Politische Macht. Fortan wird fleißig missioniert und dezimiert. Aus Religionen erwachsen Weltreligionen. Aus Weltreligionen entstehen Gottesstaaten, während sich andere Glaubensrichtungen subtiler geben und Staaten bloß unterwandern. Bis der Mensch im 21. Jahrhundert ankommt. In einer globalisierten Welt, auf der Menschen aller Herkunftsländer und Glaubensrichtungen einander näher rücken. Wo sie sich, im Idealfall, gegenseitig inspirieren, einander befruchten. Jenseits der Öffnung aber suchen Seitenarme der religiösen Strömungen Auswege aus der Annäherung, die eine Aufweichung des eigenen Wahrheitsanspruchs darstellt. Die die Legitimität der eigenen Lebenswirklichkeit in Frage stellt. Der eigenen Identität. Glaube ist Identität.
Die kleine Schwester des Glaubens
Die Folge ist Rückzug. Zum einen defensiv in ultraorthodoxe Parallelgesellschaften, in denen alternative, mitunter repressive und sexistische Lebensentwürfe ausgelebt werden können. Andernorts führt der Rückzug in die Offensive, wenn man sich, genährt von Verirrung, Frust, Schicksal, Demütigung oder purem Machtstreben radikalisiert. Glaube kann heilen – und er kann zerstören, wenn man ihn instrumentalisiert. Kirche verkommt zur Miliz, Glaube zu Aberglaube, das Gebet zur Hasspredigt. Andernorts wieder vergeht sich die Kirche an ihren Jüngern und entzieht sich hartnäckig ihrer Verantwortung. Wenn die Institution tagtäglich das verrät, was sie predigt, dann wandern ihre Anhänger ab – und stranden womöglich. Auch das birgt Gefahr. In einer Welt, in der Bildung und Wissen so leicht zugänglich sind wie nie zuvor, erwachsen machtvolle Apparate, die auf Fake und Manipulation gegründet sind, Heilsversprechungen verbreiten und aufgebrachte Jünger generieren. Kein Land, keine Religion, keine Bildungsschicht ist dagegen gefeit. Die Politik weiß längst ein Lied davon zu singen und mobilisiert heutzutage Millionen von Anhängern mit der kleinen Schwester des Glaubens – der Verschwörungsphantasie: Heilung versprechen, Angst säen, Hass ernten. Donald Trump war ein irrer Prediger. Die lebende Karikatur einer Entwicklung, die sich längst durch religiöse und weltliche Gefilde pflügt. Auch das System Trump basiert auf einem Wahrheitsanspruch. Glaube an sich ist rein. Erst der Wahrheitsanspruch kann aus Glaube Lüge machen.
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