Der Islam erscheint in den Medien vornehmlich als eine Religion, die ihren Anhänger:innen strengste Regeln auferlegt. Dass es nicht den einen Islam gibt, sondern seine Gemeinschaften ebenso vielfältig sind wie die Gesellschaften, in denen sie entstehen, demonstriert der Liberal-Islamische Bund, der 2010 in Köln gegründet wurde. Seine Fundamente sind die Eigenverantwortung der einzelnen Gläubigen und der dialogische Austausch. Im Ruhrgebiet sollen weitere Gemeinden entstehen.
Ganz gleich wie der persönliche Lebensentwurf, das Alter oder die nähere Glaubensauslegung aussehen, im Liberal-Islamischen Bund eint die Mitglieder ihr liberales Islamverständnis. Viele von ihnen haben einen konservativen Hintergrund, aber „irgendwann einen anderen Weg eingeschlagen“, erklärt Odette Yilmaz, erste Vorsitzende des Vereins. Sie selbst wurde progressiv erzogen, war dennoch lange Zeit in einer konservativen Gemeinde aktiv. Irgendwann stellte Yilmaz fest, dass ihr der Rahmen, den eine konservative Glaubensauslegung bietet, zu eng gesteckt ist. Kritisch den eigenen Glauben hinterfragen, dasseiin strenggläubigen Gemeinden eher schwierig: „Aber der Koran ruft uns auf, nachzudenken.“
Viele Wege des Glaubens
Die Schahâda – das islamische Glaubensbekenntnis – und die freiheitlich-demokratische Grundordnung sind die Grenzsteine des Liberal-Islamischen Bundes. Die Gemeindemitglieder sollen ein eigenes Islamverständnis entwickeln dürfen und sich in gemeinsamen Begegnungen dazu austauschen. Ein liberaler Islam bedeutet demnach: Die Befreiung von der absoluten Wahrheit. Der einzelne Gläubige denkt und handelt eigenverantwortlich. Das heißt auch, dass die eigene Position kritisch reflektiert wird. „Der Glaube des Einzelnen ist nur ein Weg von vielen und jeder Weg hat seine Berechtigung“, fasst Yilmaz zusammen.
Gemeinden des Liberal-Islamischen Bundes lassen sich bereits an sieben Standorten in Deutschland finden, darunter in Hamburg, Berlin und Frankfurt. Seit letztem Jahr wird auch der Gemeindeaufbau im Ruhrgebiet vorangetrieben, außerdem in Wuppertal. Duisburg wird als zukünftiger Standorte ins Auge gefasst. Hier fühlen sich bereits ca. 30 Personen dem Verein verbunden. Durch eine gute Vernetzung im Ruhrgebiet sollen mit den neuen Standorten nicht zuletzt Alternativen zu den Präsenzveranstaltungen in Köln geschaffen werden. Noch wird der Gemeindeausbau durch die Covid-19-Pandemie erschwert.
Pluralistische Brückenbauer
Die Reaktionen auf die Aktivitäten des Liberal-Islamischen Bunds sind gemischt. Trotz allem setzt der Verein auf Austausch statt Ausgrenzung. Mitunter wird ihm unterstellt, anti-muslimisch zu sein oder die Positionen Strenggläubiger zu ignorieren. Doch neben dem interreligiösen Austausch wird auch der innermuslimische Diskurs gepflegt. „Wir laden andere Gemeinden gerne zu uns ein, beispielsweise zum gemeinsamen Fastenbrechen. Da sind natürlich auch konservative Menschen herzlich willkommen. Unsere einzige Erwartung ist, dass der Absolutheitsanspruch draußen bleibt“, stellt Yilmaz klar. Aufgrund dieser Offenheit wird der Verein mittlerweile auch als Gesprächspartner für die Politik, wahrgenommen. In ihm zeigt sich die Hoffnung, dass progressive Glaubensgemeinden als Brückenbauer zu pluralistischen Gesellschaften fungieren.
Religionäre - Aktiv im Thema
religionen-entdecken.de | Bildungsportal für Kinder, das Wissen über die Religionen der Welt vermitteln und Berührungsängste abbauen will, in Partnerschaft u. a. mit der Universität Kassel.
zentralratderjuden.de | Der im Jahr 1950 gegründete Zentralrat der Juden vertritt die öffentlichen Interessen von 23 Landesverbänden und 105 Gemeinden und ist als Ansprechpartner für die Landes- und Bundespolitik etabliert.
rat-der-religionen.de | Der Rat der Religionen Frankfurt gibt auch eine Übersicht von verwandten Einrichtungen in anderen deutschen Städten.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bekenntnis ohne Kern
Intro – Religionäre
Nichts als die Wahrheit
Abwanderungen des Glaubens – Teil 1: Leitartikel
„Judentum in drei Klischees“
Rabbinerin Ulrike Offenberg über liberale und orthodoxe Religiosität – Teil 1: Interview
Sehnsucht nach politischer Erlösung
Droht das Comeback politischer Religionen? – Teil 2: Leitartikel
„Sehnsucht nach Transzendenz“
Theologin Margot Käßmann über Glauben und Spiritualität in der westlichen Welt – Teil 2: Interview
Im Garten der Religionen
Der Katholische Verband für Mädchen- und Frauensozialisation Köln e.V – Teil 2: Lokale Initiativen
Die Arche, der Mob und der Angriff aufs Capitol
Religiöser Wahn und die Verachtung von Fakten haben die US-Konservativen fest im Griff – Teil 3: Leitartikel
„Die religiös Liberalen stark machen“
Philosophin Gesine Palmer über religiösen Fundamentalismus – Teil 3: Interview
Religionen mögen trennen – Religiosität eint
Der Wuppertaler Runde Tisch sieht und praktiziert Glauben als Basis zur Verständigung – Teil 3: Lokale Initiativen
Mit Unterschieden leben
Der Dortmunder Dialogkreis der Abrahamsreligionen – Lokale Initiativen
Vereint für Glaube und Gesellschaft
Dialog statt Diskriminierung: der Schweizerische Rat der Religionen – Europa-Vorbild: Schweiz
Der Marktplatz der Religionen
Vom Mit- und Durcheinander der Religionen – Glosse
Lebendige Denkmäler
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Route Industriekultur als Brücke zwischen Gestern und Heute
Spenden ohne Umweg
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Netzwerk 2. Hand Köln organisiert Sachspenden vor Ort
Zivilcourage altert nicht
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Verein zur Erforschung der Sozialen Bewegungen im Wuppertal
Immer in Bewegung
Teil 1: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Jenseits der Frauenrolle
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Spieldesignerin und Label-Gründerin Mel Taylor aus Köln
Zusammen und gegeneinander
Teil 3: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
Europa verstehen
Teil 1: Lokale Initiativen – Initiative Ruhrpott für Europa spricht mit Jugendlichen über Politik
Zu Gast in Europas Hauptstadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Die europäische Idee in Studium und Forschung an der Kölner Universität
Verbunden über Grenzen
Teil 3: Lokale Initiativen – Wuppertal und seine europäischen Partnerstädte
Korallensterben hautnah
Teil 1: Lokale Initiativen – Meeresschutz im Tierpark und Fossilium Bochum
Was keiner haben will
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Unternehmen Plastic Fischer entsorgt Plastik aus Flüssen
Wasser für Generationen
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Wupperverband vernetzt Maßnahmen und Akteure für den Hochwasserschutz
Orientierung im Hilfesystem
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Opferschutzorganisation Weisser Ring in Bochum